VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 53

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2. Cuttings
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Feuilleton=Beilage des Tagesboien aus Mähren und Schlesien
Stunden“ und der „letzten Masken“ jener menschlichen
ter zugleich ein fesselndes Lebensdrama, das in seinen Kon= gewöhnlichen Wortsinne, es
Schicksalssituationen, die zwischen Tod und Leben hangen.
flikten die zartesten Seiten der Psyche berührt und eine
„Du“, dies sichere Merkmal
Schnitzler umwebt diese Nachdenklichkeiten mit einem lyrisch¬
Lösung findet, die über kühne Vorstellungen der Poeten
dern auch sonst jede Art er
melancholischen Duft. Sein Boot fährt zwischen den beiden
hinausgeht. Fast jeder einzelne Brief enthält etwas Inter¬
die Briese einer Frau, die un
Gestaden, dem des Lebens und des Todes, in weiche Däm¬
essantes oder Ergötzliches, einen intimen Aufschluß über
hört; aber ein Strom von
merungsnebel gehüllt, mit leisem, träumerischem Ruder¬
Zeitverhältnisse oder eine überraschende temperamentvolle
Fülle von Sorge, Mitemp
schlag, und am anderen Ufer weht ein Schattenreigen, ge¬
Wendung, alle zusammen aber haben Bekenntniswert, bilden,
und eine Art neckischen Hum
heimnisbang. Salten aber fuhrwerkt in einem zischenden,
um ein oft mißbrauchtes Modewort anzuknüpfen, ein mensch¬
die intime Teilnahme an d
Fauchenden Motor mit grellem Scheinwerfer die gleiche
liches Dokument, und zwar eine Urkunde stärkster, aus
bezeichnet. Es ist nicht bloß d
Bahn, und statt lyrische Schleiertransparenz zu breiten,
Kampf und schweren inneren Konflikten hervordrängender
es ist eine eigene Tonsarbe,
sumpt er die Stoffe der Stille mit effektvoller (Dramatik
Menschlichkeit.
ein besonderer Klang, der m
lauf, mit den Mitteln der Spannungskatastrophentheatralik
Jeanette Wohl — dies ihr Familienname — ge¬
harmoniert und doch versch
und mit denen der Puppen=Possenbühne.“
Gegenklang zu reizen. Und
hörte nicht zu den vom Schicksal begünstigten Frauen. Was
Dies ist viel zu schroff, aber etwas Wahres ist damit
Charakteren. Sie sind wie d
sie an Glück für sich und andere erreichte, das hat sie im
doch erkannt. Den lebenskräftigen „Grafen Festenberg“
Feuer der Energie geschmiedet. Mit 22 Jahren wurde sie,
Paul für die Freundschaft
könnte Hermann Bahr, der Verfasser des „Meister“ ei¬
wie es dem älteren Brauche bemittelter jüdischer Familien
die in den Sekunden differ
funden haben, der Autor der Pistolengeschichte „Der Ernst
in Frankfurt und in anderen Gemeinden entsprach, an einen
menschlagen übereinstimmen.
des Lebens“ könnte Sudermann, der Dichter der ironi¬
reichen Mann namens Oppenheim (alias Otten) verhei¬
wie ihr Freund und fühlt ih
schen „Auferstehung“ Schnitzler („Literatur“) sein. Ein
ratet, den die Eltern für sie gewählt hatten, an einen Mann,
freiheitlichen Gesinnung, in
spezifischer Saltenscher Ton, der den Autor verriete und
der weder ihrem Herzen nahe stand, noch ihrem lebhaften
und Kriecherischen, in der A
kennzeichnete, erklingt nicht. Das gleiche ist auch über die
und feingebildeten Geiste genügen konnte. Ihre wehrhafte
Charakteren, in alledem ist 2
in der Form meisterhafte Novelle „Herr Wenzel auf
Natur sträubte sich gegen die Verbindung mit dem un¬
jektivität, hegt und pflegt si
Rehberg“ die Wassermann gedichtet haben könnte, über
gleichen Genossen, und sie trug früh auf Scheidung an. Wäh¬
Selbst. Dagegen ist sie in al
die Maupassantsche Novelle von der armen „kleinen Ve¬
rend die Verhandlungen darüber schwebten, erkrankte Otten
bensweg so wichtig ist, übe
ronika““ oder über den geradezu an Schnitzlers „Ab¬
schwer und Jeanette pflegte ihn — auch dies ist höchst be¬
sichtiger und ordentlicher al
schiedssouper“ erinnernden Einakter „Schöne Seelen“
zeichnend für ihr Wesen — mit der größten Aufopferung,
Regsamkeit des täglichen Ha
zu sagen. Salten gibt wie Bahr das Höchste, was ein ge¬
die die strengste Auffassung der Gattenpflicht nur verlangen
führung persönlicher Entschl
scheiter Theoretiker der Bühne abringen kann. Das ist nicht
kann. Aber da er genesen war, kam sie — ebenso konsequent
richtungen, die zu einem be
wenig. Im Gegenteil, seine Arbeiten überragen das Durch¬
dem ist sie Börnes Erzieher
und energisch in der Pflicht gegen sich selbst wie gegen den
schnittsniveau unserer Bühnenwerke um ein beträchtliches.
anderen Teil — auf die Scheidung zurück und setzte sie
spornt sie ihn zum Fleiße,
Erfindungsgabe, Herrschaft über die Technik, erlesener Ge¬
durch. Bei der Trennung nahm sie nichts von ihrem Gatten
sprochenen Hefte der „Wage
schmack und virtuoses Geschick, sie geben zusammen ein
an. als was sie in die Ehe mitgebracht hatte. Kein Schatten
legern und Zeitungen, zu
durchaus erfreuliches Resultat und es wäre unseren Bühnen
blieb auf der geschiedenen Frau haften, die in das Haus ihrer
entsprechende Einkünfte. All
nur zu wünschen, daß mehr solche Werke den hypertrophischen
Eltern zurückkehrte und da, wie später in den Familien
sprühender Laune, die das
Operettensingsang und die Possenalbernheit vertrieben.
ihre Schwestern, denen sie sich abwechselnd anschloß, den
einem Grundton der Zartheit
Aber auch die bestgemachte Perrücke kommt, so wertvoll und
Mittelpunkt eines geistig anregenden Kreises gebildet zu
gerecht wird und nur dort b
nützlich sie oft ist, dem Kranz und Glanz eigener Locken
haben scheint. Etwa um 1815 dürfte sie mit Börne bekannr¬
Schaffensdrang sich in gefähr
nicht gleich
geworden sein. Der etwa neunundzwanzigjährige Doktor
droht. Und Börne horcht auf
Gespielt wurde vorzüglich, von Herrn Kramer, dem
und Polizeiaktuar stand damals schon auf ansehnlicher Höhe
in seinem höheren Interessen
Kellner, Aristokraten und candidato mortis, von Fräulein
des schriftstellerischen Ruhmes, seine eigenartigen Theater¬
genialen Wesen gestattet er
Marberg in der Rolle der getäuschten, nicht enttäuschten
kritiken machten Aufsehen über Frankfurt hinaus. Zu einem
Vorteile des Philisters zu er
Gräfin Festenberg und von Frau Glöckner in der Leh¬
früh entwickelten Künstverstand gesellte sich da ein seiner
Aus der sanften Pädag
mann=Rolle der Gattin wider Willen. Besonders exzellierte
Witz, und in die Kritik der Lebensbilder war die des Le¬
ketterie springt aber ein tiefe
Kramer durch die große Verwandlungsfähigkeit, mit der
bens selbst, war eine Fülle mutiger Proteste gegen politi¬
auf die großen Fragen, die de
er dreimal sein Geschick „vom andern Ufer“ aus — einmal
schen Druck und gesellschaftliche Misere hineingesponnen. Er¬
kommt, wenn sie die drücken
als gesellschaftlich Toter, dann als dem nahen physischen
selbst versichert, und man darf es ihm glauben, daß ihm
dert, Unrecht und Vorurteil
Tod Geweihter, schließlich als wiedokerstandener moriturus
diese Proteste am Herzen lagen als die schwebenden Theater¬
und das Walten der geschichtl
— betrachtete, gestaltete.
und Kunstfragen. Zu alledem kam der individuelle Reiz
der merkwürdigsten Briefe d
Wien, im November.
seiner Sprache. Ehe er intensiver für die Volksbefreiung
Zeit an und wirft ein grelles
wirken konnte, wirkte er für die Befreiung der Persönlich¬
deutscher Kleinstaaterei, al

keit im Stil. Er war seit dem großen Publizisten Lessing
Schimmer auf die Briefschreib
der erste Journalist im engeren Wortsinn, der durch den Zau¬
den ihr eine in Kassel leben
##
ber natürlichen, durchgeistigt subjebtiven Ausdrucks dem ge¬
Briefe einer denkwürdißen Frau.
sie da (im Dezember 1831)
schriebenen Worte die Schwingen der Rede gab, er streifte
gen in der Serenissimusstadt
Von Professor Dr. Alfred Klaar.
dem Zeitungsstil die Fesseln aktenmäßiger Verschränktheit
hobene Kurprinz, der eben
Jeanette Strauß=Wohl gehörte bisher nicht zu den
und pedantischer Gelehrsamkeit ab und gab ihm die Frische
Schaumburg, zur morganat
günstig beleuchteten Frauengestalten des intimen Literatur¬
der Aufrichtigkeit, den Naturton der Ehrlichkeit und die
sucht seine Mutter, die Kurf
geschichte. Auch in den gebildeten Kreishn wußte man nicht
volle Anmut der geistvollen Anregung. Alles spricht dafür,
aufs kleinlichste zu kränken,
viel von ihr: etwa, daß sie Ludwig Börnes treue
daß die gegenseitige Freude am geistigen Wesen für die erste
Schwiegertochter keinen Verk
Freundin war, daß die berühmten Pariser Briefe dieses
intime Annäherung zwischen Börne und Jeanette entschei¬
ihr die große Loge im Theate
dend war. Sicherlich waren beide nicht ohne leidenschaftliches
großen Publizisten an sie gerichtet und von ihr gesammelt
sie auf den gewöhnlichen Ei
Empfinden. Eine ehrerbietig=zärtliche Zuschrift Börnes an
und gesichtet wurden, und daß Heine nach Börnes Tode
genüberliegende Loge, wo si
die neue Freundin aus dem Jahre 1817 läßt uns, wenn
dessen reines Verhältnis zu ihr verdächtigte und dafür durch
nehmen des jungen Ehepaare
auch in einer gewissen Dämpfung, im Manne den Jüng¬
ein ihm peinliches Duell mit Jeanettens Gatten und durch
hat. Gezwungen oder unter
ling wiedererkennen, der einst in Berlin aus Leidenschaft
einen öffentlichen Widerruf gebüßt hat. Für den Börne¬
Regung zieht er dann den B
forscher freilich rückte diese Gestalt seit jeher stärker ins
für die schöne Pflegemutter Henriette Herz in den Tod
fürstin auf dem gewohnten P
gehen wollte. Und Jeanette, die drei Jahre älter als Börne,
Relief. Die überlieferung der Zeitgenossen läßt sie im Lichte
sie mit Vivatrufen vom Publ
einer ungewöhnlichen Herzensgüte und Opferwilligkeit er¬
im Anfang der Dreißig stand, war sicherlich keine Frau
die ganze Demonstration war,
scheinen, und in Börnes Briefen an sie spiegelt sich ihre
ohne Sinne. Aus ihren Briefen spricht vornehme, fast
daß die die Loyalität ängstlich
geistige Bedeutung und der volle Zauber einer tiefanregen¬
könnte man sagen edle Koketterie, aber doch die Kunst des
fürstin zuriefen: „Es lebe un
den Persönlichkeit. Aber jene in alle Biographien Börnes
Weibes, das den Mann, der einen tiefen Einfluß auf ihr
nicht die böse Schwiegermutter.
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