VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 62


box 37/3
2. Cuttings
Rich. M. Meyer: 18888888
bs Das literarische Jung=Wien. B88838 403
keit, die geblieben ist, ist — das Kaffeehaus, Gewiß lagen hier Gefahren, und er ist ihnen
Eli= Bernard Shaw, die realistische Milieukomö¬
nicht entgangen. Die Jagd nach der lite¬
usen
die aus, und es entsteht ein an blitzenden
der Treffpunkt geistreicher Meinungen, wirk¬
rarischen Entdeckung; der Ehrgeiz, allein ein¬
und Einfällen reiches Drama: „Josephine“ (1898);
samer Paradorien, die Versuchsbühne für
gewertet zu sein; besonders aber die von
aben
er stellte der Zerrissenheit und Scheinsucht
merkwürdige Ideen, das eigentliche Theater
Genuß zu Begierde stürmende Hast — sie
dige
moderner Literatur die altmodische Einfach¬
geradezu, in dem die ehrgeizigen Autoren

arteten in eine Virtuosität des Vorschmeckens
mit
des altöster¬
heit eines „guten Mannes“
ihre Szenen vor einem kongenialen Publi¬
aus, die schließlich dem Vorpcüfer selbst die
ohne
reichischen Dialektdichters Stelzhamer
kum zum besten geben.
Zunge verdarb. Nitzsche hat sich einmal den
erste
gegenüber und bildet die Idee zu dem liebens¬
Man hat die Wichtigkeit dieses Eitelkeits¬
Don Juan der Erkenntnis genannt; auch
wurdigen Fünfakter „Der Franzl“ (1900)
marktes wohl überschätzt: Karl Kraus, Leo
der Don Juan der literarischen Entdecker¬
aus; er kritisiert wiederum die philiströse
frei¬
Hirschfeld in ihren Satiren auf das „Café
freude fährt schließlich, nachdem er mit einem
Geniescheu, indem er aus dem Schicksal des
stadt,
Grienstadel“ und Rudolf Lothar in seinem
wahren Monument sein Spiel getrieben hat,
oden
Komponisten Hugo Wolf die tragische Szenen¬
Kaffeehausroman „Halbnaturen“ denen
zur Hölle. Bis dahin aber: welches be¬
dann in Berlin analoge Parodien auf unser
reihe „Der arme Narr“ (1906) herausspinnt.
noch
wundernswertes Schwelgen in fremden
Ein Schauspieler — Talma —, ein Dichter
Café Größenwahn“ gefolgt sind. Das aber
itzler

Seelenstimmungen und welches beneidens¬
Stelzhamer —, ein Komponist — Hugo
ist richtig: eine Zeitlang hat sich die jung¬
wertere in dem Glück des Vermittelns! Wie
hat
Wolf — die kann er dramatisch rezensieren;
wienerische Literatur nur für das Café stili¬
vielen hat er den Weg gebahnt, wie vielen
okrat
will er allgemeiner politische Verhältnisse
siert. Dahin gehören jene sonderbaren kleinen
gar die Augen geöffnet! Und hat er dabei
Pam¬
(„Der Apostel“ 1901), kulturelle Zustände
Unarten: die Leidenschaft, mit der Kennt¬
auch geirrt — in unserm mit negativer Kritik
tiven
(„Der Athlet“, 1899), „Der Klub der Erlöser“.
nis von Kognakmarken und Zigarettenfirmen
allzu reich gesegneten Vaterlande sollte etwas
1905) oder auch selbst theatralische Zeitbilder
reten.
zu renommieren, wobei man so nüchtern sein
zu viel Lob, etwas zu heftige Empfehlung
(„Der Star“ 1898) und künstlerische Lebens¬
pzial¬
kann wie der letzte — hoffentlich letzte!
williger verziehen werden!
ausschnitte („Das Tschaferl“ 1897) vergegen¬
in dieser Reihe: der prätentiös=wichtige Lud¬
„Die
H. Bahr war auch für „die Moderne“
wärtigen, so entstehen leblose Figuren, die
wig Hirschfeld, der richtige Epigone in der
pffen¬
kein Doktrinär: mit Karlweis hat er ein
hit zu
mühsam in Situationen gebracht werden,
dritten Potenz. Dahin gehören aber auch
Volksstück im alten Stil geschrieben, wie denn
Um
aus denen man Pointen und Paradorien
Eigenheiten des inneren Zuschnitts wie
natürlich die altwienerische Literatur nicht
hervorziehen kann („Ringelspiel“, 1905).
die, alles nur sub specie literaturae anzu¬
ausgestorben ist und vor allem in den volks¬
Man pflegt zu sagen, der Dramatiker sei
sehen. Ihr offizieller Repräsentant ist der da¬
z fü
tümlicheren Gattungen — Drama und Noman
vor allem durch die Kraft gekennzeichnet,
en
malige Bahr.
fortdauert. Aber für die jungen Talente
Über¬
mit der er sich in fremde Seelen hinein¬
Man kann sagen: es ist seine Größe, daß
hat vor allem er die Bahn gebrochen —
zuversetzen verstehe. Aber es gehört dazu
rbei¬
er überall Menschen sucht, daß er warm¬
und wenn er kein Lessing war, so hatte er
noch ein anderes: er muß die Seele erst
herzig Menschen zu fördern strebt — und
ffnet
eben auch keinem Goethe den Pfad zu be¬
schaffen, in die er sich einfühlen soll! So
urna¬
dies ist seine Tragik, daß er nur Bücher
reiten.
leidenschaftlich muß er sich in den Hamlet,
findet. Die Seele, in die er sich einzufühlen
ltigte
Aber wie Lessing nicht bloß Größere vor¬
den Tasso den Tell hineinversenken, daß ein
jenes
versteht, die er künstlerisch umgebildet uns
neues Wesen gezeugt wird, ähnlich den beiven
bereitete, sondern auch Kleinere hervorrief,
wiedergibt
i uns
es ist nie die Seele eines
Eltern: der überlieferten Figur — und dem
so ging von Bahr eine ganze Gruppe der
Menschen, immer die eines Buches. Das
Dichter. Dies ist Bahr versagt. Er kommt
Aneignungskünstler aus. Sie sind alle in der
macht diese Essay=Sammlungen so inter¬
irre,
nicht so weit, er bleibt zu fest in seine Atmo¬
feuilletonistisch gehaltenen Kritik zu Hause,
essant („Zur Kritik der Moderne“, 1891; „Die
sphäre gebannt; nur über die Mauer spricht
bei der sie es mehr auf das Nach= und
de
überwindung des Naturalismus“, 1891;
Vorempfinden anlegen als auf das Urteilen;
er mit den Gestalten seiner Phantasie. Ge¬
von
„Renaissance“, 1892; „Premieren“ 1901, u.a.):
und wenn diese ganze Richtung der „impressio¬
nügte jene Bedingung, so wäre Bahr einer
eniger
die Bücher werden lebendig, erzählen von
nistischen Kritik“ schon vor Bahr von Lemaitre
der ersten Dramatiker unserer Zeit. Denn
ihrem Wollen und Werden; ihre Gedanken,
ver¬
in Frankreich begründet war, fügen sie durch¬
in fremde Seelen sich einzufühlen, einzu¬
dort erstarrt, werden wieder flüssig, die Ge¬
denen
wühlen, ist seine Leidenschaft und seine Vir¬
gängig die spezifisch Bahrsche Nuance der
solcher
stalten neugeboren. Oft sieht Bahrs Dar¬
tnosität. Doch aber — es bleibt auch hier.
Entdeckerwut hinzu. Vor allem zu bewun¬
stellung dem Original so wenig ähnlich wie
inung
dern, daß der „Bourgeois“ auf dem Umwege
ein Aber.
Schillers Wallenstein dem historischen — oft
ktwick¬
Schon in dem alten Wien spielte die
über die Furcht in die Anbetung der jeweils
hat sie eine höhere Wahrheit als ein refe¬
einem
neu entdeckten Götter gejagt wird — das ist
Literatur eine unverhältnismäßig groß
rierendes Porträt geben könnte. Vor allem
drama
die Losung! Außeres Kennzeichen ist das
Rolle. Die Talente und Halbtalente sitze
baber: es sind Kunstwerke, weil das Eckchen
noch
stete Nebeneinander von kritisch=satirischen
Literatur stets durch ein Temperament aus¬
zu dicht aufeinander; fortwährend treff
n ab¬
sie sich im silbernen Kaffeehaus — und
Genrebildern in dramatischer Form und
geebnet ist.
1890)
Kritiken, die einen lebhaft bewegten, oft dra¬
Und dies Temperament ist nicht nur
reden Literatur. Selbst bei Grillparzer, vi
Ich
matischen Ton anstreben. Diese Schule be¬
stärker noch bei Schreyvogel oder Bauer
#„modern“ — es ist auch individuell. Mag
un¬
ginnt etwa mit dem sehr produktiven Rudolf
feld — wovon ist in Tagebüchern und Brief.
sich Hermann Bahr mit Eugen Wolff um
kannt:
die Rede? Von Büchern und vom Theat
Lothar (geb. 1865), dessen Rührigkeit auch
bösem
die Priorität des so unschönen als unent¬
Von Politik darf man ja nur mit Vors'
größere historische Darstellungen („Das
Behrlichen Wortes „die Moderne“ streiten,
ignen
Wiener Burgtheater“ 1900, „Das deutsche
i dem reden; sie wird aber auch fast nur unter d
mag er das Wort „suggerieren“ eine Zeit¬
Drama der Gegenwart“, 1905) versuchte —
Gesichtspunkte der Zensurfreiheit und :
kang zu einem unvermeidlichen Modeartikel
leider benutzte er sie zu parteiischer Anfein¬
gemacht haben — die Hauptsache ist doch,
ward verbesserten Buchhandels aufgefaßt.
Immerhin: das lebendige Theater stand
dung und Belobigung. Seine klug aus¬
haß hier ein Mensch war für den es ein
fritiker.
gerechneten Dramen („König Harlekin“ 1900)
ein Stück künstlerischer Qualität neben
Glück war, wirklich oder scheinbar Morgen¬
eichen,
haben vor denen Bahrs die sichere Führung
fritiken abstrakten „Literatur“. Jetzt ist diese Re
ten aufgehen zu sehen, die noch nicht ge
voraus und sind an Lebensblut noch ärmer.
ückten tät zerflattert; das Burgtheater beden
Ruchtet hatten; für den es eine Seligkeit
unter Laube und Dingelstedt nicht mehr ge
Wie er die Geschichtsschilderung, fügt
dedeutete, neue Sensationen zu empfinden
rechte
unter den Späteren gar nicht mehr, was.
Richard Schaukal (geb. 1874) die Lyrik hinzu
änd durch das Weitergeben das Gefühlsleben
rama¬
und kultiviert sie sogar besonders eifrig in
für die Wiener Dichter zur Zeit Schreyvogel¬
anderer zu bereichern. „Denn edlen Seelen
en den
vorzufühlen ist wünschenswertester Beruf.“ seinen „Gärten“, (Gedichte 1894). In der
länder bedeutete. Die einzige künstlerische Wirklich¬
26*
590



M