VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 63

2. Cuttings

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404 S Prof. Rich. M. Meyer: 888
Kunst, mit den eben kaum proklamierten
legenheitskutsche mit glänzendem Lack und
Götzen auf Du und Du zu stehn, übertrifft
bunten Bilderchen kennzeichnet allein schon
ihn niemand; freilich begegnet es ihm dabei
die innerliche Leere und Mittelpunktslosigkeit
etwa, den guten Mainzer Victor Goldschmidt
eines von allen Magneten hin= und her¬
zu einem englischen Goldsmith zu machen,
gerissenen Virtuosen. Daneben stehen natür¬
wenn er von dessen tiefsinnigen Zahlenspeku¬
lich auf Wunsch glatte einfache Verse
lationen sprechen muß, als sei es sein täg¬
Und ein „Kritiker“ hat ihm in Aussicht gestellt,
liches Brot. Natürlich würde er sich schämen,
er werde noch einer der größten Dichter werden.
einen größeren französischen Künstler zu kennen
Warten wir es ab. Vielleicht stiftet der
als Daumier oder einen größeren deutschen
Unvergleichliche sich zu Ehren — denn auf
Dichter als Wilhelm Busch; natürlich bringt
all seiner Poesie steht wie auf jenem Gedicht¬
er auch in seiner Lyrik jedem Winde seinen
bande Vogelers aus Worpswede das eine
Tribut. Unaufhörlich wirft er Verse, psycho¬
große Wort: „Aus!“ — einen Schaukalpreis
logische Skizzen, Novellen, Kritiken heraus,
für die größtmögliche Unnatur im Gebrauch
neuerdings auch (seit Bahr sich das an¬
der deutschen Sprache. Freilich, da er, wo
gewöhnt hat) kritisch=ästhetische Dialoge. Ein
er nicht dichtet, ein kluger Kopf ist, würde er
klares Gefühl von der Ungebundenheit des
ihn wohl jedesmal sich selbst verleihen müssen!
zeitgenössischen Poesie=Chores spricht sich in
In jener an sich höchst begreiflichen, ja
seinen Betrachtungen aus, wenn er über den
lobenswerten Sehnsucht nach Erweiterung
„Jahrmarktslärm der Gaukler und schwitzen¬
des eigenen poetischen Horizonts, nach Be¬
den Ausrufer vor den Leinwandbuden der
reicherung der eigenen und der fremden
Cliquen“ spricht oder vor dem Dilettantis¬
Empfindungswelt, die uns als Hauptkennzei¬
mus warnt, der sich an jedes Vorbild ver¬
chen des jungen Wien erschien, liegen ja
liert (Literatur“ In tyrannos, 1907); aber so¬
böse Versuchungen. Man täuscht sich in die
bald er nun selbst schaffen will, verfängt er
erwünschten Stimmungen hinein, taumelt in
sich in den dreifach verschlungenen Netzen
derwischartige Verzückungen oder verfällt in
des literarischen Snobismus, und jene drei
die Unberührtheit des Fakirs — aber alles
Dialoge selbst, in denen er zum Aussprechen
vor Zeugen. Und nicht, wie jene letzteren,
der Individualität und zur Verachtung der
vor einem engeren, verständnisvolleren Kreise,
Moden rät, sind kürzlich in einer witzigen
sondern vor all und jedem, auf der Straße.
Charakteristik des „modernen Essayisten“ als
Und dabei betont man die Verachtung der
Muster modesüchtiger Affektation persifliert
Vielzuvielen unaufhörlich — auch das nicht
worden. Er preist als Meister des einfachen
unaufrichtig, sondern in Selbsttäuschung —
Stils den seit der letzten Jubelfeier obli¬
das individuelle Bedürfnis,—zu jeder Er¬
gatorischen Adalbert Stifter oder den kürz¬
scheinung in neue, erlebte Beziehungen zu¬
lich neu herausgegebenen Helferich Peter
treten, ist ja wirklich die Quelle aller dieser
Sturz; alsdann geht er hin und schreibt in
oft so seltsamen Verrenkungen. Ein gewisses
einem von Paranthese zu Paranthese irren¬
Maß von Affektation haben daher auch die
den Satz voller gesuchtester Wortbildungen
Stärksten zu überwinden; die Schwächeren
etwa folgendes Urteil über R. Dehmel:
bleiben darin kleben. —
„Auch Heine (der übrigens trotz Dehmel
Wie Schaukal mit künstlichen Formen und
unsere Muttersprache sicherlich etwas mäch¬
buntem Wechsel, so kokettiert Peter Alten¬
#tiger sprach als alle deutschen Müllers oder
berg (geb. 1862) mit Schlichtheit und Mono¬
Schulzens', von Unbefangenen aber denn
tonie. Er strengt sich an, jeder noch so unbe¬
doch nicht
seine spezifischen künstlerischen
deutenden Szene Bedeutung abzugewinnen
Qualitäten in Ehren — als Muster „mäch¬
(„Wie ich es sehe“ 1896; „Was der Tag
tiger Sprache aufgestellt werden dürfte.
mir zuträgt“, 1900). Schweißtriefend hebt er
O Friedrich Hölderlin, o Heinrich Kleist,
Federn hoch, um ihr Zentnergewicht zu
o Meister Gottfried!), auch Heinrich Heine
zeigen. In kleinen zerzackten Sätzchen schnei¬
war ein mit vielen Facetten schimmerndes,
det er uns seine Empfindungen vor: was
kaum je zu künstlerischer Rundheit erlöstes
der von der Wiener Kaffeehauskultur er¬
Genie; der wissende Augur, der immer
müdete Literat beim Anblick eines nackten
intellektuelle, mißtrauische Virtuose ätzenden
Negerkindes an Gefühlen produziert, wird
Hohnes (Dehmel ist nicht ironisch, sogar
uns feierlich dargereicht. Dazu bemerkt der
pathetisch wie Schiller; Goethe ist nie pathe¬
Verfasser beständig: „O, es ist nichts! es ist
tisch), der stets mit der spöttelnden Ver¬
nur — alles!“ Adalbert Stifters pedanti¬
nünftigkeit kokettierende Meister der un¬
scher Altersstil, der uns keinen der Schritte
lyrischen „Pointe“, fand selten einen vollen
schenkte, die der Held von der Tür bis zum
tiefen Seelenklang auf seiner mit unehr¬
Fenster zurücklegt, umkleidet sich mit hyste¬
erbietigen Ironikerfingern so virtuos gehand¬
rischer Symbolik. „So vergeht der Vormittag.
habten Laute, und erst der majestätische
Immer gehen Türen auf und zu, und alles
sieht aus, als ob es nie in Ordnung käme.“
Schatten des Unentrinnbaren verklärt ihm
Folgen zwei Seiten gleichen Stils:
die unruhigen Züge seines Schmerzes zum
Uff! Dieses Mon¬
„Wie vergeht die Zeit bis Mittag?!“
Adel des Leidens.“
strum, dieser Briefsack mit Nachrichten an
„Sie vergeht.“
Nach zwei Seiten:
die verschiedensten Adressen, diese von Heine
zu Dehmel hin und her schwankende Ver¬
„Nachmittag.“
P8888 Das literar
„Der Nachmittag vergeht.“
Auf dem Wege dieser Fabrikation v#
„Extrakten des Lebens“ ist Altenberg dau
schließlich („Prödromos“ — so! — 1906) H
der unerhörten Feinheit der Literaturpsych
logie angelangt. Was wollen die Aphort
men der La Rochefoucauld und Nietzsche h
sagen gegen die Altenbergs:
„Idealstes Zahnputzmittel. In Wien h
Twerdj, Apotheke, Kohlmarkt“ (S. 82).
„Meinem vergötterten Vater schickte
zum 70. Geburtstage zwei Schachteln T
marinden Grillon, Paris“ (S. 16)
rohe Eidotter,
„Ambrosia
Hühr rbouillon gesprudelt“ (S. 50).
Und so wären wir nach langem Umw
wieder bei dem „Volk der Phäaken: imm
ist's Sonntag, es dreht immer am Herd
der Spieß“. Nur sind leider der gute Appe
und die gesunde Verdauung verloren gega
gen, die in der Backhähndelzeit Joha
Strauß' und Moritz von Schwind's blühte
Ein nach diätetischen Rezepten lebend
Gourmand — das ist der berühmte Schrif
steller Peter Altenberg.
Etwas ästhetischer wenigstens ist die Fei
schmeckerei Felix Dörmanns (geb. 1870), d
sich an Baudelaires krankhaft überreizt
Genußphantasie zu den schwülen Sinne
räuschen seiner Lyrik („Neurotica“, 189
„Sensationen“ 1892) erzog:
Ich liebe die Fahlen und Bleichen,
Die Frauen mit müdem Gesicht,
Aus welchen in flammenden Zeichen
Verzehrende Sinnenglut spricht ...
Ich liebe, was niemand erlesen,
Was keinem zu lieben gelang:
Mein eignes, urinnerstes Wesen
Und alles, was seltsam und krank.
Später hat er die Bedürfnisse seiner h
sterischen Sehnsucht nach dem Ungesund
in schlüpfrigen Novellen und Dramen billig
befriedigt. Der alte Nestroy taucht aus d
Versenkung auf, von dem Hebbel sagt
„Wenn der an einer Rose riecht, dann stin
sie.“ Dem Behagen an sexuellem Witz, de
sich Grillparzers Klubgenossen Castelli un
Bäuerle ergaben, wird mit raffinierter
Kunstfertigkeit ein Gang nachgemacht
Maupassant nach dem andern aufget
Und hier hat die Diät feinere Zuberei
nötig gemacht, aber leider nicht bessere Ko
Doch auch stärkere Geister lockt das U
gesunde das Verbotene. Das Motiv d
einen anziehenden Reiz, den sein Antipo
Theodor Fontene abscheulich fand. Ab
Storm hat es nur in der Ballade ang
rührt; zwei Wiener schwelgen in der Au
malung dieses krankhaft wirkenden Motiv
der jungverstorbene Rechtsanwalt Otto Sach
dessen Novellen („Von zwei Geschwistern
1898) J. J. David herausgegeben hat, un
dieser selbst („Frühschein“ 1896). Sachs g
hört schon in die Reihe jener Wortziseleur
die ihre künstlichen Empfindungen am lie
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