VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 64


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2. Cuttings
ich. M. Meyer: 1888
bseessesese Das literarische Jung=Wien. 1 405
ten
legenheitskutsche mit glänzendem Lack und
„Der Nachmittag vergeht.“
sten in den Brokat mittelalterlicher Renais¬
bunten Bilderchen kenn eichnet allein schon
Auf dem Wege dieser Fabrikation von
sancekostüme hüllen wie Beer=Hofmann und
die innerliche Leere und Mittelpunktslosigkeit
„Extrakten des Lebens“ ist Altenberg dann
Hofmannsthal; vergleicht man seine Schilde¬
eines von allen Magneten hin= und her¬
schließlich („Prödromos“
— so! — 1906) bei
rung der verbotenen Glut mit der Davids,
gerissenen Virtuosen. Daneben stehen natür¬
der unerhörten Feinheit der Literaturpsycho¬
so erkennt man wieder, wie rasch das Ver¬
lich auf Wunsch glatte einfache Verse...
logie angelangt. Was wollen die Aphoris¬
langen, jeden Moment, jede Nuance auszu¬
Und ein „Kritiker“ hat ihm in Aussicht gestellt,
men der La Rochefoucauld und Nietzsche be¬
kosten, über die einfachere, stärkere Ausdrucks¬
er werde noch einer der größten Dichter werden.
sagen gegen die Altenbergs:
weise des älteren fortgeschritten ist. In pracht¬
Warten wir es ab. Vielleicht stiftet der
„Idealstes Zahnputzmittel. In Wien bei
vollen Bildern rollt sich bei Sachs das
Unvergleichliche sich zu Ehren — denn auf
Twerdj, Apotheke, Kohlmarkt“ (S. 82).
grauenvolle Mysterium ab; mit der Freude
all seiner Poesie steht wie auf jenem Gedicht¬
„Meinem vergötterten Vater schickte ich
am Wort hat er seine eigenen Schauer über¬
bande Vogelers aus Worpswede das eine
wunden...
zum 70. Geburtstage zwei Schachteln Ta¬
große Wort: „Aus!“ — einen Schaukalpreis
marinden Grillon, Paris“ (S. 16).
Das ist die Signatur auch für zwei rei¬
für die größtmögliche Unnatur im Gebrauch
„Ambrosia —
rohe Eidotter, in
fere Künstler, die wir oben schon nannten.
der deutschen Sprache. Freilich, da er, wo
Hühr rbouillon gesprudelt“ (S. 50).
Schon ein äußeres Kennzeichen hebt sie von
er nicht dichtet, ein kluger Kopf ist, würde er
Und so wären wir nach langem Umweg
der Gruppe der Bahr und Schaukal ab:
ihn wohl jedesmal sich selbst verleihen müssen!
wieder bei dem „Volk der Phäaken: immer
daß sie fast so sparsam produzieren, wie diese
In jener an sich höchst begreiflichen, ja
ist's Sonntag, es dreht immer am Herd sich
verschwenderisch. Von Leopold Adrian
lobenswerten Sehnsucht nach Erweiterung
der Spieß“. Nur sind leider der gute Appetit
kenne ich überhaupt nur eine Veröffent¬
des eigenen poetischen Horizonts, nach Be¬
und die gesunde Verdauung verloren gegan¬
lichung („Der Garten der Erkenntnis“, 1895).
reicherung der eigenen und der fremden
Ich habe sie in meiner Literaturgeschichte
gen, die in der Backhähndelzeit Johann
Empfindungswelt, die uns als Hauptkennzei¬
Strauß' und Moritz von Schwind's blühten.
schon eingehend charakterisiert: „Es ist eine
chen des jungen Wien erschien, liegen ja
Ein nach diätetischen Rezepten lebender
zynische Skizzensammlung, wenn sie auch als
böse Versuchungen. Man täuscht sich in die
Gourmand — das ist der berühmte Schrift¬
fortlaufende Erzählung auftritt. Eine weiche,
erwünschten Stimmungen hinein, taumelt in
steller Peter Altenberg.
ja weichliche Stimmung ist über diese son¬
derwischartige Verzückungen oder verfällt in
Etwas ästhetischer wenigstens ist die Fein¬
derbare Biographie des Fürsten, der das
die Unberührtheit des Fakirs — aber alles
Leben erkennen wollte, gebreitet; so recht die
schmeckerei Felix Dörmanns (geb. 1870), der
vor Zeugen. Und nicht, wie jene letzteren,
Losung jener, die nach Ricarda Huchs Wort
sich an Baudelaires krankhaft überreizter
vor einem engeren, verständnisvolleren Kreise,
am „Heimweh nach dem Vaterlande in ihrer
Genußphantasie zu den schwülen Sinnen¬
sondern vor all und jedem, auf der Straße.
räuschen seiner Lyrik („Neurotica“, 1891;
eigenen Brust“ sterben. Das krankhafteste
Und dabei betont man die Verachtung der
Produzieren ungesunder, verzerrter Halluzina¬
„Sensationen“ 1892) erzog:
Vielzuvielen unaufhörlich — auch das nicht
tionen wird hier auf den Gipfel getrieben;
Ich liebe die Fahlen und Bleichen,
unaufrichtig, sondern in Selbsttäuschung —
der Ton ist affektiert... Dennoch gelingen
Die Frauen mit müdem Gesicht,
das individuelle Bedürfnis,zu jeder Er¬
hier Bilder, so
ganz von einer fast einzu¬
Aus welchen in flammenden Zeichen
scheinung in neue erlebte Beziehungen zu
atmenden Luftschicht umgeben, so unnatür¬
Verzehrende Sinnenglut spricht ...
treten, ist ja wirklich die Quelle aller dieser
lich täuschend, daß wir uns selbst angesteckt
oft so seltsamen Verrenkungen. Ein gewisses
Ich liebe, was niemand erlesen,
fühlen und die Empfindungen dieser kranken
Maß von Affektation haben daher auch die
Was keinem zu lieben gelang:
Seele sich auf uns übertragen. Das liegt
Stärksten zu äberwinden; die Schwächeren
Mein eignes, urinnerstes Wesen
in der Ehrlichkeit, mit der Adrian den Glau¬
bleiben darin kleben. —
Und alles, was seltsam und krank.
ben seines Helden, seiner Zeit teilt: den
Wie Schaukal mit künstlichen Formen und
Später hat er die Bedürfnisse seiner hy¬
Glauben an die „königliche Verschwendung
buntem Wechsel, so kokettiert Peter Alten¬
sterischen Sehnsucht nach dem Ungesunden
des Daseins“ an das „Fest des Lebens“
berg (geb. 1862) mit Schlichtheit und Mono¬
in schlüpfrigen Novellen und Dramen billiger
Freilich, ihm fehlt die Energie, dies Leben
tonie. Er strengt sich an, jeder noch so unbe¬
befriedigt. Der alte Nestroy taucht aus der
zu ergreifen, und so entgleitet ihm doch seine
deutenden Szene Bedeutung abzugewinnen
Versenkung auf, von dem Hebbel sagte:
Schönheit.
(„Wie ich es sehe“ 1896; „Was der Tag
„Wenn der an einer Rose riecht, dann stinkt
Richard Beer=Hofmann (geb. 1866) hat
mir zuträgt“ 1900). Schweißtriefend hebt er
sie.“ Dem Behagen an sexuellem Witz, dem
in seinem „Tod Georgs“ (1900) ein Seiten¬
Federn hoch, um ihr Zentnergewicht zu
sich Grillparzers Klubgenossen Castelli und
stück zu Adrians Traumarrangement gelie¬
zeigen. In kleinen zerzackten Sätzchen schnei¬
Bäuerle ergaben, wird mit raffinierterer
fert, etwas realistischer freilich, wie er denn
det er uns seine Empfindungen vor: was
Kunstfertigkeit ein Gang nachgemachter
vorher („Die Verlassene“ 1893) Novellen in
der von der Wiener Kaffeehauskultur er¬
Maupassant nach dem andern aufgetischt.
jenem ironisch=naturalistischen Ton geschrie¬
müdete Literat beim Anblick eines nackten
Und hier hat die Diät feinere Zubereitung
ben hatte, den so viel Virtuosen in Wien
Negerkindes an Gefühlen produziert, wird
beherrschen: Dörmann, Salten, Auernheimer
nötig gemacht, aber leider nicht bessere Kost!
uns feierlich dargereicht. Dazu bemerkt der
und andere kleine Maupassants an der Do¬
Doch auch stärkere Geister lockt das Un¬
Verfasser beständig: „O, es ist nichts! es ist
nau. Um so mehr überraschte es, als er nach
gesunde, das Verbotene. Das Motiv der
nur
alles!“ Adalbert Stifters pedanti¬
Geschwisterehe hatte für Theodor Storm
langer Pause mit einem historischen Trauer¬
scher Altersstil, der uns keinen der Schritte
einen anziehenden Reiz, den sein Antipode
spiel hervortrat („Der Graf von Charolais“
schenkte, die der Held von der Tür bis zum
1903). Literarischen Ursprungs war auch dies
Theodor Fontane abscheulich fand. Aber
Fenster zurücklegt, umkleidet sich mit hyste¬
Storm hat es nur in der Ballade ange¬
merkwürdige Werk: ein altes englisches
rischer Symbolik. „So vergeht der Vormittag.
rührt; zwei Wiener schwelgen in der Aus¬
Drama hatte es dem Dichter angetan. Wie
Immer gehen Türen auf und zu, und alles
malung dieses krankhaft wirkenden Motivs:
Bahr, wie Hofmannsthal das Geheimnis
sieht aus, als ob es nie in Ordnung käme.“
fremder Kunstwerke nacherlebend umformen,
der jungverstorbene Rechtsanwalt Otto Sachs,
Folgen zwei Seiten gleichen Stils:
dessen Novellen („Von zwei Geschwistern“.
so bemächtigt er sich dieser Fabel. Die wilde
„Wie vergeht die Zeit bis Mittag?!“
1898) J. J. David herausgegeben hat, und
Grausamkeit wird in ihr durch tragikomische
„Sie vergeht.“
Groteske gesteigert, der Psychologie ein
dieser selbst („Frühschein“, 1896). Sachs ge¬
such zwei Seiten:
hört schon in die Reihe jener Wortziseleure, dunkles Rätsel aufgegeben; ein Zeitalter
„Nachmittag.“
die ihre künstlichen Empfindungen am lieb= voll wildester Sensationen tut sich auf. Beer¬


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