2. Cuttings
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Notizen und Besprechungen.
Kretzers Romanen das Proletariat mit seiner Not und seinem Elend im
Vordergrunde steht: diesmal versetzt er uns in Kreise, in welche die nicht
dazu Gehörigen nur dann einen Blick tun, wenn vor Gericht ein Spieler¬
prozeß oder eine Ehebruchstragödie verhandelt wird, bei dem die vor¬
nehmsten Namen genannt werden, in den Klub der Trostlosen, den erklu¬
sivsten Klub Berlins, zu dem nur entartete Genußtrottel gehören, deren
Geist schwach und deren Fleisch willig ist, und die von ehrlosen Speku¬
lanten mit und ohne Titel ausgebeutet werden. Die Schilderung ihrer
Verschwendungssucht, Liederlichkeit und Faulheit läßt sich wohl kaum durch
irgend welche Idealität des Gemüts verklären, und so fehlt in der ersten
Hälfte des Romans jener Reiz, den er nicht entbehren kann, wenn er nicht
von einem Werke der Dichtung zu einem Werke schaler nackter Prosa herab¬
sinten soll. Erst als er uns von Berlin W. nach Berlin N. versetzt, ge¬
winnt seine Darstellung eine wohltuende Wärme, und man fühlt ihr an,
daß die Motive, die er darin verwertet, aus der Tiefe des eignen Erlebens
aufsteigen. Da M. Kretzer zu den Naturalisten gerechnet wird, sei noch
rühmend hervorgehoben, daß er versängliche Dinge niemals ausführlich
schildert, sondern immer mit Diskretion behandelt. Das Problem des
Romans ist schon im Titel ausgesprochen, es ist das uralte und doch ewig
neue von dem Gegensatz zwischen dem Vater, der den eigenen Sohn nicht
versteht und ihn in Bahnen zu zwingen sucht, die er weder gehen kann
noch will. Der Vater, ein Eisenkönig des westlichen Deutschlands, ist ein
Urbild der Gesundheit und Kraft, ganz Tatenmensch und Gewaltnatur, der
Sohn ein Schwächling, aber nicht ohne dichterische Begabung, zwar ange¬
kränkeit von der Fäulnis der Gesellschaft, in die er geraten ist, aber doch
noch nicht zugrunde gerichtet, so daß er sich schließlich aus dem Sumpf
herausarbeitet, in dem er zu versinken drohte, und daß der Trinkspruch
eines armen hungernden Idealisten aus Berlin N.: „Nieder mit den Trost¬
losen! Hoch die Trostreichen, die Beharrlichen und Geduldigen!“ fortan
sein Wahlspruch wird. Unnötig zu sagen, daß ein tapferes, gesundes
Mädchen, das er ehrlich liebt und zu seiner Frau erwählt, den Anstoß zu
dieser Wandlung gibt. Man folgt der Entwicklung der Handlung bis zum
Schluß mit steis gesteigertem Ineresse.
Arthur Schnitzler. Eine kritische Studie über seine hervorragendsten
Werke von Alexander Sallind. Berlin=Leipzig. Modernes Ver¬
lagsbureau, Curt Wiegand. 1907.
Der Verfasser dieser Studie sieht in Arthur Schnitzler einen der
Großen, deren Name die Jahrhunderte überdauert; aber es ist immer ge¬
wagt, „aus den Summanden der Gegenwart eine Bilanz für die Zukunft
zu ziehen“, und auf keinem Gebiete mehr als auf dem litterarischen.
Wenn sich nicht nur die Berliner Bühnen, sondern auch die seiner
Vaterstadt Wien ziemlich ablehnend gegen seine Stücke, — es sind meist nur
Einakter verhalten, so liegt es gewiß nicht daran, daß es sich inden
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Notizen und Besprechungen.
Kretzers Romanen das Proletariat mit seiner Not und seinem Elend im
Vordergrunde steht: diesmal versetzt er uns in Kreise, in welche die nicht
dazu Gehörigen nur dann einen Blick tun, wenn vor Gericht ein Spieler¬
prozeß oder eine Ehebruchstragödie verhandelt wird, bei dem die vor¬
nehmsten Namen genannt werden, in den Klub der Trostlosen, den erklu¬
sivsten Klub Berlins, zu dem nur entartete Genußtrottel gehören, deren
Geist schwach und deren Fleisch willig ist, und die von ehrlosen Speku¬
lanten mit und ohne Titel ausgebeutet werden. Die Schilderung ihrer
Verschwendungssucht, Liederlichkeit und Faulheit läßt sich wohl kaum durch
irgend welche Idealität des Gemüts verklären, und so fehlt in der ersten
Hälfte des Romans jener Reiz, den er nicht entbehren kann, wenn er nicht
von einem Werke der Dichtung zu einem Werke schaler nackter Prosa herab¬
sinten soll. Erst als er uns von Berlin W. nach Berlin N. versetzt, ge¬
winnt seine Darstellung eine wohltuende Wärme, und man fühlt ihr an,
daß die Motive, die er darin verwertet, aus der Tiefe des eignen Erlebens
aufsteigen. Da M. Kretzer zu den Naturalisten gerechnet wird, sei noch
rühmend hervorgehoben, daß er versängliche Dinge niemals ausführlich
schildert, sondern immer mit Diskretion behandelt. Das Problem des
Romans ist schon im Titel ausgesprochen, es ist das uralte und doch ewig
neue von dem Gegensatz zwischen dem Vater, der den eigenen Sohn nicht
versteht und ihn in Bahnen zu zwingen sucht, die er weder gehen kann
noch will. Der Vater, ein Eisenkönig des westlichen Deutschlands, ist ein
Urbild der Gesundheit und Kraft, ganz Tatenmensch und Gewaltnatur, der
Sohn ein Schwächling, aber nicht ohne dichterische Begabung, zwar ange¬
kränkeit von der Fäulnis der Gesellschaft, in die er geraten ist, aber doch
noch nicht zugrunde gerichtet, so daß er sich schließlich aus dem Sumpf
herausarbeitet, in dem er zu versinken drohte, und daß der Trinkspruch
eines armen hungernden Idealisten aus Berlin N.: „Nieder mit den Trost¬
losen! Hoch die Trostreichen, die Beharrlichen und Geduldigen!“ fortan
sein Wahlspruch wird. Unnötig zu sagen, daß ein tapferes, gesundes
Mädchen, das er ehrlich liebt und zu seiner Frau erwählt, den Anstoß zu
dieser Wandlung gibt. Man folgt der Entwicklung der Handlung bis zum
Schluß mit steis gesteigertem Ineresse.
Arthur Schnitzler. Eine kritische Studie über seine hervorragendsten
Werke von Alexander Sallind. Berlin=Leipzig. Modernes Ver¬
lagsbureau, Curt Wiegand. 1907.
Der Verfasser dieser Studie sieht in Arthur Schnitzler einen der
Großen, deren Name die Jahrhunderte überdauert; aber es ist immer ge¬
wagt, „aus den Summanden der Gegenwart eine Bilanz für die Zukunft
zu ziehen“, und auf keinem Gebiete mehr als auf dem litterarischen.
Wenn sich nicht nur die Berliner Bühnen, sondern auch die seiner
Vaterstadt Wien ziemlich ablehnend gegen seine Stücke, — es sind meist nur
Einakter verhalten, so liegt es gewiß nicht daran, daß es sich inden
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