VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 75

2. Cuttings
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Notizen und Besprechungen.
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meisten um sehr heikle Probleme handelt, denn erstens kann das heutige
Theaterpublikum in dieser Beziehung sehr viel vertragen, und zweitens ver¬
steht es Arthur Schnitzler, der bei den Franzosen in die Schule gegangen
ist, meisterhaft, die gewagtesten Situationen mit so viel Grazie und Geist
zu behandeln, daß man sich ihrer Frivolität kaum eher bewußt wird, als
bis sie vorüber sind, sondern doch wohl hauptsächlich daran, daß sie zu
wenig dramatisch sind und mehr Stimmung als Handlung enthalten, so
daß sie gelesen mehr wirken, als gesehen. Der Novellist ist größer in ihm
als der Dramatiker; aber auch seine Novellen, unter denen wahre Kabinetts¬
stücke von Stimmungskunst sind, werden im nächsten Jahrhundert wohl
kaum noch gelesen werden. Wer liest heute noch Ludwig Tiecks Novellen,
die einst für Perlen der erzählenden Poesie galten? Arthur Schnitzler ist
von Beruf Arzt und hat als solcher mehr Gelegenheit zu psychologischen
und sozialen Studien als die Nur=Dichter; aber die Einblicke, die er bisher
in das menschliche Herz und die verschiedensten gesellschaftlichen Kreise getan
hat, scheinen ihn um alle Lebensfreudigkeit und =hoffnung gebracht zu
haben. In seinen Novellen sowohl wie in seinen Einaktern klingt immer
ein Unterton von müder Resignation und tiefer Schwermut, und mit Re¬
signation und Schwermut erobert man weder Mit= noch Nachwelt: das
tut nur jener Mut, der aus dem Glauben stammt, daß schließlich doch das
Gute siegen und dem Edlen endlich der Tag kommen wird. Daß er das
Wiener „süße Mädel“ oder „Mizi“ zu einer literarischen Figur gemacht
und es, wie einst Alexandre Dumas fils durch seine Kameliendame die
vornehme Courtisane, die geistreich zu plaudern versteht, auf die Bühne
gebracht hat, ist für diese auch kaum ein Gewinn. Da es sehr schwer ist,
einen Dichter, der noch mitten im Schaffen begriffen ist und von dem
niemand bestimmt sagen kann, ob er nicht noch einen ganz anderen Weg
einschlagen wird, als den, dem er bisher gefolgt ist, richtig einzuschätzen, hätte
A. Salkind vielleicht besser getan, mit seiner kritischen Studie über Arthur
Schnitzlers hervorragendste Werke noch etwas zu warten. Die ihn bewundernde
Clique umhüllt den lebenden Dichter meist mit einem so dichten Weihrauch¬
nebel, daß auch das schärfste Auge ihn kaum richtig zu sehen vermag, und
erst wenn sich dieser zerstreut hat und man die nötige Distanz zu seinem
Bilde gewonnen hat, sieht man ihn so, wie er wirklich war. Der buch¬
händlerische Erfolg der Studie wird bald erweisen, ob das litterarische
Publikum schon jetzt einen Wegweiser zur Würdigung des Wiener Dichters
mit Freude begrüßt oder nicht.
Romantiker=Briefe. Herausgegeben von Friedrich Gundelfinger.
Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena. 1907.
Diese ebenso interessante wie reichhaltige Auswahl von Briefen — es
sind ihrer 322 = aus dem Kreise derjenigen Romantiker, die sich um die
Gebrüder Schlegel gruppierten, „will eine Geschichte der frühromantischen
Bewegung ersetzen und uns ihre Hauptvertreter in persönlichen Bekennt¬