VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 79

2. Cuttings
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an. . —
E vom:
Phantastische Romane.
Von Walter Turszinsky (Berlin).
Es ist charakteristisch, daß in beiden Büchern, denen hier ein Geleit¬
wort gegeben werden soll, die Absicht weit größer ist, als das Voll¬
bringen. Solche Divergenz fällt besonders immer da auf, wo der Ver¬
fasser eigentlich nur Stange zu halten, seinem ursprünglichen Plane wie
einer gut ausgetretenen Fußspur nachzugehen brauchte, um seines
Stoffes Herr zu werden. Denn, was er am Anfange seines Weges will,
kann er auch. Nur, was er während des Marsches noch aufgreift was
seinen Stoff noch runden will, was sich den Grundmotiven noch an¬
schließt, wird zum niederziehenden Gewicht, das eine Einheit zerstört,
die es breiter und imposanter machen mochte. Man müßte ein Dick¬
häuter sein, wollte man Herrn Max Brod nicht zugestehen, daß er in
seinem Roman „Schloß Nornepygge“ (Berlin, Verlag Axel Juncker) dem
Grundriß des karikaturistisch=satirischen Romans weit näher gekommen
ist, als selbst Gustav Meyrink in seinen diabolisch ersonnenen Skizzen¬
ansätzen und Feuilletons. Es sind in diesem Buch, in diesem gellenden
Hohngelächter auf den Snobismus Szenen, die in ihrem Kontrast zwi¬
schen der sorgfältig artistischen Herrichtung des Stils und dem satanisch¬
zynischen Inhalt wirken, wie eine der Diaboliques von Felicien Rops;
Szenen, in denen die Fratze Grabbes sichtbar über den Zeilen schwebt.
Walder Nornepygge, der Held des Romans, der sein Leben vertut, um
als Dekadent, als Idealist, als Erotiker, als Aszet, endlich als politischer
Revolutionär seinen eigenen Stil zu suchen, die Lebensform, die nur
ihm eigentümlich und passend ist, ist gewiß, wenigstens im Entwurf, als
glatt verständliche und zeitentsprechende Karikatur auf aktuelle Narr¬
heiten vortrefflich geraten. Auch die andern menschlichen Lemuren, von
denen der Stilsucher ins Schlepptau genommen wird, Theaterdirektoren,
Marquis, Bürgerliche und Adelige, jeder und jede ein mixtum composi¬
tum aus Wirklichem und Gespenstischem, aus Menschlichem und Phan¬
tastischem, haben bestes, schärfstes Meyrinksches Blut in den Adern, mit
einem Zusatz jenes Lebenssaftes, der an der Existenz der Gestalten Hein¬
rich Manns die Schuld tragt. Nur, daß der Schüler, der auf den
Schultern zweier Meister baut, naturgemäß noch etwas weiter gehen kann,
als jene. Aber, Herr Brod hat leider nicht die Fähigkeit zur Beschrän¬
lung; — man dente daran, wie z. B. Heinrich Manns „Professor Unrat“.
als karikaturistischer Roman begonnen und geschlossen wird. Noch ist
Max Brod mehr jung und fühlend, als blasiert und souverän und steht
mehr inmitten als oberhalb der Ereignisse, muß also notgedrungen zu¬
gleich ein Ironiker, zugleich ein Pathetiker sein. Und so überlastet er
sein Buch, dessen Linie, wie ich sie markiert habe, gerabe und rücksichts¬
los hätte zu Ende geführt werden müssen, dessen Stoff nur in karrika¬
turistischer Beleuchtung ansehbar, dessen Anlage zunächst auch präzis
in dieser Art gestaltet ist, später mit zahllosen, unnötigen Anhängseln,
breiten, lyrischen Episoden, verschwommenen utopistischen Malereien.
Vor allen Dingen aber beginnt Max Brod seinen Helden immer gerade
an der Stelle ernst zu nehmen, an welcher er dem Leser am lächerlichsten
erscheint. Das ist verständlich: denn Herr Max Brod selber kommt ja
ursprünglich direkt vom österreichischen Dandysmus und Literatur¬
fnobismus her, möchte also seinen Stammverwandten nicht gleich bei der
ersten Begegnung schonungslos verreißen, ihm vielmehr die Dosis seines
Spottes nur mit Mitleid vermengt schmecken lassen. Aber diese
Schonung zerreißt die Wirkung. Es kommt etwas Unausgegorenes,
Schiefes, hin und her Taumelndes zustande, gleich als säße der Kopf
eines Gulbranssonschen Mikrocephalen auf einem von Phidias gemeißel¬
ten Rumpfe. Im Leben ist der Stil ein Geckenrequisit: Die Kunstform
braucht seine Fessel! Szenen, wie das scheußlich=gewaltige Notturno,
in welcher Walder Nornepygge sein Weib in den Armen eines in
Menschengestalt wandelnden Gnoms findet und, wie ein lebloser Klum¬
....: oder die
pen, die Schmähungen der beiden über sich ergehen läßt.
andere, in welcher der Eremit Walder den ihn suchenden Stadt= und
Lebensmenschen entgegenruft: „Törichte, laßt ab von mir. Ich habe
nichts mehr gemein mit euch. Ich bin Eremit geworden!“ und ein
Zyniker ihm kalt erwidert: „Me riechts!“ zeigen die Stelle und den
Stil, an denen Max Brod hätte stehen bleiben müssen. Sein Schwanken
zwischen Satire und Pathos ist durch keine stilistische Virtuosität gut zu
machen.
Immerhin: der Bremenser Otto Gysae ist mit seinem dritten
Roman: „Die silberne Tänzerin“ (Albert Langen, München) nicht ein¬
mal so weit gekommen, wie sein süddeutscher Kollege von der phantasti¬
schen Romanliteraturrichtung. Bei ihm muß man sich schon an die
Kunstfertigkeit des Wortschliffes, an den seltsamen Reichtum der nach
der Anleitung des Koloristen Jens Peter Jarobsen gestellten Bilder
halten, wenn man überhaupt bis zu etwas Positivem vordringen will.
Otto Gysae möchte die stillen Stuben hanseatischer Puritaner öffnen,
zwischen deren Wänden das Leben in den Mündungen kalter Zeremonien,
eisigen Pflichtenbewußtseins, lähmender Einförmigkeit versickert ...
und wir erinnern uns, daß Thomas Mann in seinen „Die Budden¬
brooks“ vor den gleichen Spiegel getreten ist, freilich, um in dem
Glase Menschen: keine Gesvenster, sondern ein vom Sonnenlichte des
hellen Tages beschienenes Stück Leben zu sehen. Otto Gysae hat es,
persönlich in diesem Kreise lebend, erkannt, daß das Leben der Güter
höchstes nicht ist und illustriert diese Einsicht durch das Schicksal der
armen Ante Almelo, einer kleinen Millionärsfrau, die wie ein Elfchen
durch die dunklen Säle ihres Daseins geht, zwischen dem nachlässig¬
gütigen, meist in Geschäften versunkenen Gatten und der wachsamen,
strengen Schwiegermutter, bis ihr Tag still, ahnungslos, auslöscht, wie
einst der Odem ihres kleinen Kindes auslöschte. Ihr bedeutet der Tod
eine Hoffnuna; die erste, nicht die letze Station. Aber auch beim Be¬
tasten dieses Gedankens schadet der Vergleich: und wir gedenken dankbar
des Namens „Arthur Schnitzler“ dieses Meistersvielers auf der Klavia¬
tur der Todesdechlribt die Sprache Otto Gysaes, die seltsam
bewegte und sorgfältig durchfeilte Sprache des in langsamem Tempo und
im stillen Erdenwinkel Arbeitenden. Eine Sprache, die die Kühnheit
des Ausdrucks nicht scheut, ohne doch jemals Kobolz zu schießen. Sonst
aber leidet auch dieser „phantastische Roman“ daran, daß er mehr will,
als er leisten kann. Daß er Vorgänge, die nur eine satirische oder eine
naturalistische Belichtung vertragen, lyrisch=märchenhaft stilisiert. Herr
Brod tut das zur Hälfte, Herr Gysae ganz. Und darum bleibt er der ##
Schwächere von den beiden!

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