VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 7

2. Cuttings
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MARZ 1909
DOKUMENTE DES FORTSCHRITTS
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beständig wechselnd und in beständiger Ergänzung und Erneuerung be¬
griffen. Erst das entwickelte Bewußtsein weiß das Unbewußte zu schätzen;
erst der Besitz des Bewußten weckt die Sehnsucht nach dem Unbewußten;
und in dem tiefsten Dunkel des Unbewußten wird wieder der Wunsch nach
dem Licht geboren.
Die deutsche Dichtung drohte zu versanden; nun strömen ihr frische
Quellen von allen Seiten zu. Wieder, wie in den Tagen der Romantik fühlen
die Dichter den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Menschen
und der Natur, wieder lebt alles, was sie umgibt, und wieder bietet sich die
ganze Welt mit ihrem unendlichen Reichtum dem Künstlerblick dar. Sie
erkennen, daß nicht bloß die Sinnenwelt Stoff der Kunst ist, sondern daß
sich hinter ihr noch ein Feld von unendlicher Fruchtbarkeit ausdehnt; sie
möchten dem Geheimnis aller irdischen Zusammenhänge auf die Spur kom¬
men: dem Geheimnis der Zeit, jenes schauerlichen Zwischenraumes, der
heut und gestern unüberbrückbar trennt, dem Geheimnis des Raumes möchten
sie die Zunge lösen, und ihre Dichtung ist ein ewiges Ringen mit den Rätseln
der Welt. Wieder fragen die Dichter nach der Schönheit des Lebens statt
nach seinem Nutzen, ihr Blick übersieht das Ganze, statt an dem Teil zu
haften; wieder schildern sie Menschen, die von Sehnsucht erfüllt sind, die
nach dem Kern suchen, statt sich mit der Schale zu begnügen. Ein zarter
Hauch durchweht ihre Dichtung, in dem die irdischen Dünste durch Zeit
und Ferne geläutert sind; zauberhafter Schmelz überkleidet ihre Sprache,
die aus dem Unbewußten schöpft und ihre Bilder aus dem Kinderleben,
aus Märchen und Sage, aus längstvergangenen Zeiten nimmt. Und wieder
wählen sie ein Milieu, in dem sich die stärksten Lebensgefühle entfalten
können, in dem nur das Tiefste, Vergeistigtste, Allgemeinste des täglichen
Lebens gilt.
Wie die Romantik geht auch die Neuromantik von der Sehnsu ht aus.
Sehnsucht nach allem, was jenseits der Sinne liegt, Sehnsucht nach freieren
Lebensformen, Sehnsucht nach Schönheit und Kraft füllt ihre Seele. Aber
sie sicht ein Ziel; sie begnügt sich nicht mit dem Wunsch, sondern sie sucht
ihn durch die Tat zur Wirklichkeit zu machen. Nicht wie die Romantik
zerschellt sie am Fels des Lebens, sondern sie schwingt sich an ihm empor.
Sie flicht das Leben nicht, sondern sie ringt mit ihm, bis es sie segnet. Ihr
ist die Natur Freund und Erlöser, die der Romantik zwar höchster Quell
des Schönen, aber zugleich seltsam fremd und grauenhaft war; ihr ist das
eigene Ich voll Reiz und Lockung, aber es ist doch nur ein Glied der großen
heiligen Natur, der sie sich gläubig hingibt, während es der Romantik die
Achse des Lebens und der Kunst war. Im Streben nach Universalität verliert
sie sich nicht ins Uferlose, sondern sie sucht das Universum im einzelnen darzu¬
stellen. Während die Dichtung der Romantik im Kampfe gegen die Uber¬
schätzung der Form zerfloß, bannt sich die Neuromantik in feste Formen,
ohne diese über den Inhalt zu stellen; während das Ende der Romantik darin
besiegelt war, daß sie über dem Geist den Körper vergaß, beginnt die Neu¬
romantik die richtige Mitte zwischen Körper und Geisteswelt, zwischen
Ding und Idee zu finden. Aus allem Romantischen sah das Grauen, die Ver¬
zweiflung heraus; die Neuromantik aber beginnt sich zur Harmonie durch¬
zuringen und macht so das Leben, indem sie es bemeistert, zum höchsten
Kunstwerk.
Am deutlichsten stellen derzeit wohl Hugo von Hofmannstal, Arthur
Schnitzler, Hermann Hesse und Ricarda Huch den Weg dar, den die deutsche