VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1909–1912, Seite 10

2. Cuttings
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NORDISCHE PLASTIKER DER SPRACHE
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bevor sie den Weg der Befreiung fana; sie ist aber nicht bei der Frage stehen
geblieben wie Hofmannsthal, nicht bei Schnitzlers leise ironischem Lächeln;
nicht bei der Flucht in die Natur wie Hesse: sie hat den Kampf des Ro¬
mantikers mit dem Leben aufgenommen und ihn ehrlich zu Ende gekämpft.
Sie ist über die Romantik hinausgegangen und hat in der Natur ewige Gesetze
und in ihrer Ewigkeit Trost gefunden. Die Erkenntnis der Notwendigkeit
hat ihr und ihren Menschen Ruhe gegeben. Aber das Leben gilt ihr noch mehr
als die Natur; so sehr sie diese liebt, so könnte sie doch nicht, wie Hesse,
einsiedlerisch bei ihr Glück finden; der Mensch und seine Kämpfe sind ihr
unentbehrlich.
Ihre Menschen sind echt romantisch. Nicht von öffentlichen, sondern
von inneren Konflikten bewegt; mit ganzem Herzen lebend und darum auch
zuzeiten ganz aufgerieben und vernichtet. Aber sie kämpfen sich durch;
sie bleiben nicht wie die Romantiker und ihre Gestalten stehen, während sie
weiter sollten; sie handeln, wo das Leben Taten verlangt; sie wollen nicht
ewig Jünglinge bleiben, sondern sie verstehen in Schönheit zu reifen und alt
zu werden. Die Sehnsucht zehrt sie nicht auf, macht sie nicht unfähig zu
leben, sondern sie klingt wie ein wehmütig schöner Ton bei allem, was sie
erleben, leise mit.
Lieblicher als alles andere im Leben erscheint ihr, der Frau, die Liebe;
sie weiß ihre Süßigkeit ebenso zu schildern wie ihre Glut; sie weiß, wie es auch
die Romantiker wußten, daß selbst die Liebe den Abgrund zwischen Seele
und Seele nicht zu überbrücken vermag, und darum durchzieht Wehmut
auch ihre Schilderungen glücklichster Liebe.
Wie die Romantik macht sie das Wunderbare zum Gegenstand ihrer
Dichtung, aber während diese ihm objektive Wahrheit zuschrieben, legt sie
ihm bloß subjektive Wahrheit bei, indem sie es aus den Gedanken ihrer
Menschen entstehen läßt.
So hat die Neuromantik in Deutschland die Romantik fortgesetzt und
hat sie zu überwinden begonnen. Sie steht fester auf der Erde, sie weiß,
daß das Leben eine Größe ist, mit der man rechnen muß, über die man nicht
durch sehnsüchtige Träume hinweggleiten kann. Die Idec hebt sie zwar
über das Materielle des Daseins hinaus, aber ihre Ehrfurcht vor dem ge¬
waltigen Leben in seiner Gesamtheit ist doch so groß, daß sie nichts verlangt,
als seinen Spuren folgen zu dürfen.
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