2. Cuttings box 37/4
So hat Otto Roquette ein langes Leben in tüchtiger Männlich.
keit gewirkt und ist doch der Jünglingsdichter von „Wald¬
meisters Brautfahrt“ geblieben; und so ist heute, wenn nicht
für alle, so doch für reichlich viele, der Dichter des „Einsamen
Weges“ und des Schleiers der Beatrice“ immer noch der
Dichter des „Anatol“ und allenfalls der Liebelei" Und wenn
diese vielen über die bloßen Buchtitel hinausgreifen wollen,
so nennen sie Artur Schnitzler den „Dichter des süßen Mädls“,
und wenn sie ihn besonders ehren wollen, geben sie ihm den
Namen eines „österreichischen Maupassant“ wobei das tertium
comparationis offenbar in der geschmeidigen und durchaus
künstlerischen Behandlung erotischer Themen besteht. Nun
birgt ja jedes Schlagwort irgendwo eine Ungerechtigkeit, und
jeder Vergleich hat eine lahme Stelle. Aber freilich: ein
völligeres Totschlagwort und einen unpassenderen Vergleich
als die angeführten wüßte ich nicht zu nennen. Die anein¬
andergefügten Skizzenbilder der beiden Autoren mögen das
beleuchten.
Guy de Maupassant, der unglückliche Mensch, der früh dem
entsetzlichsten Leiden verfällt und nach langer geistiger Um¬
nachtung kaum dreiundvierzig Jahre alt stirbt, zählt als
Schriftsteller zu den allerglücklichsten. Von zwanzig bis dreißig
darf er sammeln und reifen, zu aller Jugendfreude gesellt sich
der Umgang mit bedeutenden Menschen wie Flaubert und
Zola, und die später so oft eintretenden melancholischen Stim¬
mungen sind noch selten, weil die harmlos einsetzende Krank¬
heit ihr Zerstörungswerk vorderhand im Verborgenen voll¬
bringt. Dann, 1880, ist er mit einem Schlage berühmt; die
unerhört sinnlichen Gedichte und „Boule de suif“ sind er¬
schienen. Und nun folgt jene ungeheuer reiche Tätigkeit auf
dem Gebiet der Prosaerzählung, die überhaupt nur verständlich
wird, wenn man das voraufgehende Jahrzehnt als das des
Schätzesammelns betrachtet. Die Novelletten und Skizzen des
Dichters sprudeln förmlich hervor; das Bauern= und See¬
mannsleben der heimatlichen Normandie, die Pariser Salons
und Straßen, der Siebziger Krieg, Psychiatrisches, das er am
eigenen Leibe erfährt oder, derart geschult, aus Freundes= und
Zeitungsberichten schöpft, sind seine Stoffe. Dann, am Neu¬
jahrstage 92, nachdem es schon vorher an zeitweiligen Stö¬
rungen nicht gefehlt hat, endet Maupassants bewußtes Dasein.
Das Glück des Schriftstellers aber mehrt sich von Jahr zu
Jahr. Aus dem in Frankreich Berühmten wird ei Welt¬
berühmter, aus dem bedeutenden Künstler ein unantastbarer
Meister. Wer Maupassants große Begabung bei aller Be¬
wunderung doch nur als eine begrenzte ansieht, der ist ein
über die häufige Erotik der Themen empörter Dunkelmann.
Ein gar nicht über ig radikaler Deutscher, Paul Mahn, hat,
gestützt, in seiner umfangreichen, un¬
n
iuf manche Vora##
semein sorgfältige und tüchtigen, nur eben überschwäng¬
Telephon 12.301.
ichen Maupassantbiographie diese grenzenlose Verehrung des
kovellisten zum erschöpfenden Ausdruck gebracht, er hat ihn
u den Dauernden, den Unsterblichen gerechnet, „mit denen
das große, glühende Herz der Menschheit geht“
„JUSERVEN
Und doch ist eine Grenze der Maupassantschen Begabung
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
charf erkennbar, eine Grenze, innerhalb deren wohl für Be¬
Ausschnitte und Bibliographie.
underungs=, nicht aber für so Anbetungswürdiges Raum ist.
staupassant erzählt einmal von sich: „Ich bin groß geworden
Wien, I., Concordiaplatz 4.
m Strand des Meeres, des grauen, kalten Meeres des
tordens, in einer kleinen Fischerstadt. Sie war immer heim¬
Vertretungen
esucht vom Wind, vom Regen und den Wellenspritzern. Sie
in Berlin, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
ar immer erfüllt vom Fischgeruch, sowohl vom frischen, auf
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
#e Dämme hingeworfenen Fisch, dessen Schuppen auf dem
burg, Toronto.
Straßenpflaster leuchteten, als auch vom gesalzenen, in Fässer
(Ogellenangabe ohne Gewähr.)
eingelegten Fisch oder vom gedörrten Fisch . .. gedörrt in den
braunen, von Ziegelschornsteinen überragten Häusern, deren
AURRERL. INER TAGBLATT
Rauch weithin über das Land die starken Düfte des Herings
trug. Aus diesem Satz könnte man Maupassants ganzes
Wesen erklären. Denn die Schilderung ist so charakteristisch
vom:
für die ungemeine Sinnenschärfe, die er den Dingen entgegen¬
bringt, für die Bemühung, mit der er der Sprache den ana¬
□ MN 15.
logen Ausdruck, die feinste Unterscheidung abzwingt. Er mag
Land oder See, ein Katzenfell oder einen Frauenleib be¬
schreiben, so wird nicht nur der Eindruck des Auges über¬
mittelt, auch was das Ohr, die Hand, die Nase empfindet, ist
Sprache geworden. Das ist Maupassants große und immer
saupassant und Schnitzler.
aber es ist auch seine
A.
wieder bewundernswerte Kunst — —
größte. Ich meine, er ist der vortrefflichste Erzähler, der
Von Birtar Kilempere#cn#en
glänzendste Stilist, der allerschärfste Beobachter physischer und
sozusagen nervlicher Zustände und Vorgänge. Aber Seelisches,
ie Größe eines Erstlingswerkes nicht wieder zu erreichen,
seelische Aufwärtsentwickelungen wird man bei ihm nicht
ist wohl schlimm. Ein traurigeres Schicksal vielleicht,
finden. Man prüfe doch daraufhin Maupassants Dar¬
## und dabei sicher ein häufigeres, scheint aber dies zu
stellungen der Liebe und seine Frauenporträts. Liebe ist ihm
ein: mit reiferen Schöpfungen sehr wohl über das Erstlings¬
fast immer nur das sexuelle Moment, und wie ihm das
verk hinauszuwachsen und dennoch im Munde der Welt
Sexuelle an sich gar so wesentlich ist, so sieht er in der
mmer als Dichter eben jenes Erstlings genannt zu werden.
1
zu verspüren. Auch der
mit wenigsten Ausnahmen) die Begehrte oder Begehrende.
ganz anders als Maup
Jeben
manchmal recht bitter.
ie rätselhaft Triebbewegte, die launisch und unberechenbar
zu einseitig auf die ir
bewährende und Versagende. Er ist unerhört reich in der
Schilderung von physiologischen Verschiedenheiten der Frau —
rhat selbst lauscht, hat sein Urteil
So hat Otto Roquette ein langes Leben in tüchtiger Männlich.
keit gewirkt und ist doch der Jünglingsdichter von „Wald¬
meisters Brautfahrt“ geblieben; und so ist heute, wenn nicht
für alle, so doch für reichlich viele, der Dichter des „Einsamen
Weges“ und des Schleiers der Beatrice“ immer noch der
Dichter des „Anatol“ und allenfalls der Liebelei" Und wenn
diese vielen über die bloßen Buchtitel hinausgreifen wollen,
so nennen sie Artur Schnitzler den „Dichter des süßen Mädls“,
und wenn sie ihn besonders ehren wollen, geben sie ihm den
Namen eines „österreichischen Maupassant“ wobei das tertium
comparationis offenbar in der geschmeidigen und durchaus
künstlerischen Behandlung erotischer Themen besteht. Nun
birgt ja jedes Schlagwort irgendwo eine Ungerechtigkeit, und
jeder Vergleich hat eine lahme Stelle. Aber freilich: ein
völligeres Totschlagwort und einen unpassenderen Vergleich
als die angeführten wüßte ich nicht zu nennen. Die anein¬
andergefügten Skizzenbilder der beiden Autoren mögen das
beleuchten.
Guy de Maupassant, der unglückliche Mensch, der früh dem
entsetzlichsten Leiden verfällt und nach langer geistiger Um¬
nachtung kaum dreiundvierzig Jahre alt stirbt, zählt als
Schriftsteller zu den allerglücklichsten. Von zwanzig bis dreißig
darf er sammeln und reifen, zu aller Jugendfreude gesellt sich
der Umgang mit bedeutenden Menschen wie Flaubert und
Zola, und die später so oft eintretenden melancholischen Stim¬
mungen sind noch selten, weil die harmlos einsetzende Krank¬
heit ihr Zerstörungswerk vorderhand im Verborgenen voll¬
bringt. Dann, 1880, ist er mit einem Schlage berühmt; die
unerhört sinnlichen Gedichte und „Boule de suif“ sind er¬
schienen. Und nun folgt jene ungeheuer reiche Tätigkeit auf
dem Gebiet der Prosaerzählung, die überhaupt nur verständlich
wird, wenn man das voraufgehende Jahrzehnt als das des
Schätzesammelns betrachtet. Die Novelletten und Skizzen des
Dichters sprudeln förmlich hervor; das Bauern= und See¬
mannsleben der heimatlichen Normandie, die Pariser Salons
und Straßen, der Siebziger Krieg, Psychiatrisches, das er am
eigenen Leibe erfährt oder, derart geschult, aus Freundes= und
Zeitungsberichten schöpft, sind seine Stoffe. Dann, am Neu¬
jahrstage 92, nachdem es schon vorher an zeitweiligen Stö¬
rungen nicht gefehlt hat, endet Maupassants bewußtes Dasein.
Das Glück des Schriftstellers aber mehrt sich von Jahr zu
Jahr. Aus dem in Frankreich Berühmten wird ei Welt¬
berühmter, aus dem bedeutenden Künstler ein unantastbarer
Meister. Wer Maupassants große Begabung bei aller Be¬
wunderung doch nur als eine begrenzte ansieht, der ist ein
über die häufige Erotik der Themen empörter Dunkelmann.
Ein gar nicht über ig radikaler Deutscher, Paul Mahn, hat,
gestützt, in seiner umfangreichen, un¬
n
iuf manche Vora##
semein sorgfältige und tüchtigen, nur eben überschwäng¬
Telephon 12.301.
ichen Maupassantbiographie diese grenzenlose Verehrung des
kovellisten zum erschöpfenden Ausdruck gebracht, er hat ihn
u den Dauernden, den Unsterblichen gerechnet, „mit denen
das große, glühende Herz der Menschheit geht“
„JUSERVEN
Und doch ist eine Grenze der Maupassantschen Begabung
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
charf erkennbar, eine Grenze, innerhalb deren wohl für Be¬
Ausschnitte und Bibliographie.
underungs=, nicht aber für so Anbetungswürdiges Raum ist.
staupassant erzählt einmal von sich: „Ich bin groß geworden
Wien, I., Concordiaplatz 4.
m Strand des Meeres, des grauen, kalten Meeres des
tordens, in einer kleinen Fischerstadt. Sie war immer heim¬
Vertretungen
esucht vom Wind, vom Regen und den Wellenspritzern. Sie
in Berlin, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
ar immer erfüllt vom Fischgeruch, sowohl vom frischen, auf
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
#e Dämme hingeworfenen Fisch, dessen Schuppen auf dem
burg, Toronto.
Straßenpflaster leuchteten, als auch vom gesalzenen, in Fässer
(Ogellenangabe ohne Gewähr.)
eingelegten Fisch oder vom gedörrten Fisch . .. gedörrt in den
braunen, von Ziegelschornsteinen überragten Häusern, deren
AURRERL. INER TAGBLATT
Rauch weithin über das Land die starken Düfte des Herings
trug. Aus diesem Satz könnte man Maupassants ganzes
Wesen erklären. Denn die Schilderung ist so charakteristisch
vom:
für die ungemeine Sinnenschärfe, die er den Dingen entgegen¬
bringt, für die Bemühung, mit der er der Sprache den ana¬
□ MN 15.
logen Ausdruck, die feinste Unterscheidung abzwingt. Er mag
Land oder See, ein Katzenfell oder einen Frauenleib be¬
schreiben, so wird nicht nur der Eindruck des Auges über¬
mittelt, auch was das Ohr, die Hand, die Nase empfindet, ist
Sprache geworden. Das ist Maupassants große und immer
saupassant und Schnitzler.
aber es ist auch seine
A.
wieder bewundernswerte Kunst — —
größte. Ich meine, er ist der vortrefflichste Erzähler, der
Von Birtar Kilempere#cn#en
glänzendste Stilist, der allerschärfste Beobachter physischer und
sozusagen nervlicher Zustände und Vorgänge. Aber Seelisches,
ie Größe eines Erstlingswerkes nicht wieder zu erreichen,
seelische Aufwärtsentwickelungen wird man bei ihm nicht
ist wohl schlimm. Ein traurigeres Schicksal vielleicht,
finden. Man prüfe doch daraufhin Maupassants Dar¬
## und dabei sicher ein häufigeres, scheint aber dies zu
stellungen der Liebe und seine Frauenporträts. Liebe ist ihm
ein: mit reiferen Schöpfungen sehr wohl über das Erstlings¬
fast immer nur das sexuelle Moment, und wie ihm das
verk hinauszuwachsen und dennoch im Munde der Welt
Sexuelle an sich gar so wesentlich ist, so sieht er in der
mmer als Dichter eben jenes Erstlings genannt zu werden.
1
zu verspüren. Auch der
mit wenigsten Ausnahmen) die Begehrte oder Begehrende.
ganz anders als Maup
Jeben
manchmal recht bitter.
ie rätselhaft Triebbewegte, die launisch und unberechenbar
zu einseitig auf die ir
bewährende und Versagende. Er ist unerhört reich in der
Schilderung von physiologischen Verschiedenheiten der Frau —
rhat selbst lauscht, hat sein Urteil