VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 15

2. Cuttings
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Wiener Nachwuchs von Julius Bab
aß es sich im jungen Wien von allerlei Talenten regt, darauf
habe ich schon vor Jahresfrist an dieser Stelle hingewiesen.
In diesem Jahre liegen so mannigfache Dokumente jung¬
wienerischer Bemühungen um die dramatische Form vor, daß es sich
schon verlohnt, dieser Gruppe einmal eine besondere Betrachtung zu¬
zuwenden.
Die Vaterstadt Grillparzers hat in der vorjüngsten Generation
zwei erhebliche, formbildende Talente in den Kampf um eine neue
dramatische Dichtkunst geschickt. Gemeinsam ist den beiden der inner¬
lichste Lebenskern, eben das, was wir als das Wienerische an ihnen
empfinden. Spielende Skepsis und skeptische Verspieltheit; die Lust,
die Wirklichkeit zu einem Märchen umzudeuten, und doch nicht die
Kraft, an das Märchen, wie an etwas Wirkliches zu glauben; im
kultivierten Sinnengenuß ganz gefangen sein und doch Kultur und
Sinnlichkeit mit höhnischer Wollust und mystischer Gebärde immer
wieder als Nichts entlarven: das ist Schnitzler wie Hofmannsthal, das
ist Wien, die westöstliche Grenzstadt; die Stadt des Barock, wie sie
Bahr gemalt hat, wie sie Anzengruber angeklagt hat, und wie sie von
Grillparzer, Raimund und Nestroy hundertmal gedichtet worden ist.
Was der Geist dieser Stadt dem Dramatiker nahe legt, ist eigentlich
mehr Menschenauflösung als Menschengestaltung: diese leichtsinnigen
Melancholiker, diese resignierten Epikuräer zeigen stets viel mehr, wie
sich ein Mensch, ein Charakter zersetzt, aufdröselt unter der Hand
eines Schicksals, das von außen irgendwoher an seine Seele greift,
als daß sie darstellen, wie ein Mensch, ein Charakter als Schicksal wirkt,
sich und andern Verhängnis bringt. Insoweit sind sie eigentlich
Antidramatiker: der Mensch, der da steht und spricht, ist nicht selber
Sinn und Wert, er ist nur der Schauplatz, der Durchgangspunkt für
die bewegte Luft des Schicksals, das um ihn ist. Aber — wer ein
Uhrwerk aufbricht, ist freilich noch kein Uhrmacher, und er gibt doch
einen Blick in den inneren Mechanismus, durch dessen gründliche"
Kenntnis man zum Uhrmacher werden kann. Diese Menschenauflöser
geben eminentes Material für neue Menschengestalten. Und in der
Art, wie sie das tun, unterscheiden sich nun freilich Schnitzler und Hof¬
mannsthal wesentlich — das heißt: auch nicht etwa absolut, aber doch
im Gewichtsverhältnis, der Dominante nach.
Bei Hofmannsthal
dominiert das lyrisch=rhetorische Element: er hat die Gesamtstimmung
ergriffen, den Grundton angeschlagen für diese melancholische Wollust des
Ueberranntseins, Geworfenseins, des Vernichtetseins, under gibt von dieser
Grundmelodie bis zur psychologisch=dramatischen Unmöglichkeit jeder
seiner Gestalten mit. Schnitzler hat im Grunde ein psychologisch¬
deskriptives Talent: ern und belegt sie mit Beobachtungen