VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 16

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wie ein Franzose, zuweilen (gewiß nicht immer) bis zum völligen Tode
der lyrisch=dichterischen Wirkung. Von diesen zwei verschiedenen Gaben
ihrer einflußreichsten Kulturgenossen müssen die jungen Wiener aus¬
gehen, im ganzen Doppelsinne des Wortes: einen Anfang nehmen und
sich entfernen, annehmen und überwinden.
Die Nachfolge Hofmannsthals ist in Deutschland verbreiteter und
#kannter. Bekannt, bis zu jenen entstellenden Vergröberungen,
vo die melancholische Sprachmelodie des Wieners nur modische
Schminke auf den Wangen ältester Theaterpuppen ist. Feinere und
ehrlichere Geister sind aber unter der jungen wiener Generation im
Gefolge Hofmannsthals zu finden. Da ist Felix Braun, unter den
unzählbaren Lyrikern, die von Variationen der Hefmannsthalschen
Melodie leben, zweifellos einer der Hoffnungsvollsten, der Selbstän¬
digsten; einer, der einen ganz persönlichen Ernst, eine geistige Energie,
einen Willen zur Haltung, zu neuer Gefaßtheit in das singende Chaos
der Neuromantik hineinbringt und damit vielleicht noch einmal zu
einem neuen, eigenen Ton kommen wird. Als Dramatiker aber
treibt er noch recht unfrei auf Hofmannsthalschen Bahnen, und seine
Komödie, die „Till Eulenspiegels Kaisertum' heißt (und bei Erich Reiß
in Berlin erschienen ist), zeigt Spuren zu kräftiger Eigenart viel ver¬
steckter und seltener als seine Lyrik. Es ist das alte Lieblingsthema
unserer Romantiker: der Bettler, der Narr, der Gaukler, tauscht mit
dem Mächtigen, dem Klugen, dem Kaiser, den Platz — erst zu Spiel
und Schein, dann aber wird Ernst daraus, und Schein und Wesen,
Weisheit und Torheit, Groß und Gering rollen aufgelöst miteinander
in den Abgrund unsrer Unwissenheit, wo die Wasser eines ungeklärten
Lebensgefühls großartig brausen. (Richard Dehmel nennt so etwas
ein „Wiener Lebensschnitzel'.) In der Ausführung dieser Absicht verfällt
nun Felix Braun in den typischen Fehler dieser innerlichen Ver¬
wandlungsstücke, der aus der undramatischen Natur des Themas folgt.
Diese abenteuerlichen Platzwechsel sind nämlich in der realen Wirk¬
lichkeit so nicht zu finden — hier gäbe es nur sehr langsame, höch¬
stens episch abzubildende Entwicklungen, die ihnen entsprechen. Will
ich dergleichen in die kurze Möglichkeit eines Bühnenabends zusammen¬
drängen, so brauche ich die symbolische Verkürzung der Wunder= und
Märchenwelt — da ist alles möglich. Die psychologische Analyse aber,
die Auflösung und Umsetzung der Persönlichkeit, die nachher auf dieser
märchenhaften Basis erfolgen soll, die ist doch wieder nur unter den
ganz realen Geschöpfen einer ganz realen Welt möglich. Und so ent¬
kräftet in diesen Stücken die Folgerung die Voraussetzung. In diesem
speziellen Falle kommt das so zum Ausdruck: Der Kaiser setzt in
Faschingslaune den Eulenspiegel auf drei Tage zum Herrn ein, gibt
ihm alle Insignien seiner Macht und wird selbst sein Narr für diese
Zeit. Das ist eine Märchenmöglichkeit, die für uns gerade so lange
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vorhalten wird, wie der Dichter uns auch im Märchenlande, im Lande
der unbedingt harmonischen Heiterkeit festhält. Wenn aber nun aus
dem Spiel Ernst wird, weil der arme Narr Eulenspiegel in Liebe
zur Kaiserin entbrennt, weil in dem Vagabunden, dem Ausgestoßenen,
der nie etwas besaß als die Schätze seines Gehirns, eine jähe Sehnsucht
entsteht nach den Herrlichkeiten der Welt — dann sind wir plötzlich
wieder mitten im Lande der Wirklichkeit und empfinden den Kaiser,
der aus Spaß seine Macht, seine Krone, seine Würde, seine Frau
in die Hand eines andern gibt, als eine peinliche Unmöglichkeit, und
damit fällt die dramatische Illusion zusammen. Und auch mit dem
theatralischen Effekt wird es, fürchte ich, nicht weit her sein, denn
Brauns Eulenspiegel verlangt für seinen Geist, seinen Uebermut, seine
Landstreicherlustigkeit lediglich Kredit von seinem berühmten Namen
und ist in Wahrheit von seinem ersten Auftreten an ein grämlicher,
alternder, skrupelvoller Mann, der aus seiner Situation verzweifelt
wenig lustige Einfälle, aber unendliche Anlässe zu reflektierender Lyrik
in Hofmannsthals Ton zieht. Es gibt Augenblicke, groteske Schild¬
bürgerszenen und pathetische Stimmungsmomente, die auch hier den
Dichter eigener Möglichkeiten bezeugen. Aber wenn sich Eulenspiegel
mit solchen Versen losreißt:
„Ich aber — wunderbar — ich fühle so
Die Luft zwischen den Sternen um mich gehn
Und etwas, das mich leise faßt und trägt.
Wie Morgenflügel tragen aus dem Traum ....
Wohl so entschwindet letzter Küstensaum
Den Schiffern in die Nacht, die seehin fahren,
Wie mir die Tage, die im Purpur waren.
Aus dunklem Schmerz, den Wahn und Sehnsucht schlug,
Errettet einzig alter Schwingen Flug ....
so ist diese Spitze des Gedichts beinah nur Widerhall von Hof¬
mannsthal — aber Spitze über einem so breiten, schwach konstruierten
Bau, wie ihn der kluge Meister der Neuromantik doch nirgends hin¬
gesetzt hat.
Ebenfalls von Hofmannsthal kommt Stefan Zweig her, und nicht
nur mit seinem lyrischen Verston ist er ihm verpflichtet, auch mit der
szenischen Geste, in der sich sein neues Drama gefällt. „Das Haus am
Meer“ (das als Schauspiel von zwei Teilen im Inselverlag erscheint),
ist ein Lotsenhaus in einer deutschen Hafenstadt der zweiten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts. Der Neuromantiker sucht die einfachen Na¬
turen, um das dumpf Zusammengedrückte alles Lebens recht fühlbar
zu gestalten, und die einfachen Zivilisationen, um melancholischen Stim¬
mungsreiz aus ihnen zu saugen; so hat Hofmannsthal in seinem vielleicht
schönsten dramatischen Entwurf, dem „Bergwerk von Falun', getan.
Diesen und andern Szenen verdankt Zweig sicherlich viel. Der literari¬
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