VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 17

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2. Cuttings
schen Konvention der Neuromantik entspricht auch die Art, wie Zweig
hier, mit scheinbar ganz objektivem Interesse, ein nur merkwürdiges,
romanhaft aufgeregtes Menschenschicksal malt, während er innerlich
doch nur auf die Gelegenheit lauert, die ihm wichtigen Stimmungen
gelegentlich dieses Stoffes lyrisch zu gestalten. (Wie denn auch tat¬
sächlich der Strom Hofmannsthalscher Beredsamkeit überall die Um¬
risse der dargestellten Menschen überflutet und verwischt). Das Thema,
zu dem sich Zweig äußern will, ist wiederum Boden, Heimat, Familie,
Besitz, geordnetes Bürgertum, zuverlässige Menschlichkeit — wider
Elend, Landstreicherei, Buhlschaft, Wurzellosigkeit. Die Fabel, der
scheinbar sein Interesse gilt, ist die. Thomas Krüger, der Neffe des
alten Lotsen, hat ein schönes Weib ganz unbekannter Herkunft zu sich
genommen. An einem Abend, als Soldaten mit für Amerika ver¬
kauften Rekruten ins Haus kommen, erfährt Thomas von dem Werber,
daß sein Weib eine öffentliche Dirne gewesen und irgendwo entlaufen
ist. Gleichzeitig wird in der Lotsenwirtschaft ein Seemann, der sich
eben mit neugewonnenem Vermögen für seine Familie Haus und Hof
gekauft hat, betrunken gemacht und zum Rekruten gepreßt. Thomas
aber, dem sein Heim unter den Füßen zerbricht, beschließt, den Un¬
glücklichen für die Seinen zu retten, und tauscht mit ihm — geht als
Soldat fort nach Amerika, obwohl sein Weib ein Kind von ihm unterm
Herzen trägt. Das ist der erste Teil: „Der Tausch:. Der zweite, „Die
Heimkehr:, ist eine Variante von „Enoch Arden“. Nach zwanzig Jahren
kehrt Thomas zurück und findet sein schon gealtertes Weib mit einem
jungen leichtfertigen Burschen vermählt, der ihrer bereits überdrüssig
ist und dafür mit ihrer zum Ebenbilde der Mutter erwachsenen Tochter
anbändelt. Von diesem Wiedersehen entsetzt, gibt Thomas die letzte
Hoffnung, durch sein Kind wieder zu einer Heimat zu kommen, auf
und reitet das Haus wenigstens vor dem schlimmsten Schmutz, indem
er mit dem zweiten Ehemann eine Bootfahrt antritt, von der beide nicht
lebendig wiederkehren. Dieser zweite Teil hat keinen dramatischen
Wert, weil er das Schicksal des ersten Teils in keiner Weise fort¬
führt, vollendet, rundet, steigert, sondern nur quantitativ vermehrt,
nur wiederholt. Nur wenn der Seemann, den Thomas im ersten Teil
der Heimat erhält, mit dem friedlos Gewordenen in einen neuen, das
Wesen der Seßhaftigkeit irgendwie neu beleuchtenden Konflikt träte,
wenn der „Tausch verhängnisvolle Folgen für beide Teile zeigte, hätte
diese Heimkehr einen Sinn. So ist es einfach ein neues Stück, das
an das erste gehängt ist, ein starker Einakter, der ganz gut auch für
sich gespielt werden könnte. Denn dies ist zunächst Zweigs Stärke und
Ueberlegenheit gegenüber Felix Braun, daß seine Akte stark und
spannend gebaut sind und, von ihren lyrischen Wucherungen abgesehen,
durchaus theaterreif dastehen. Aber auch in der Sprache klingt zu¬
weilen ein starkes, herzhaftes Gefühl für die einfachen, schönen Dinge
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dieser Erde an, das nicht mehr aus romantisch spielender Melancholie,
sondern aus der erfrischten Seele des Mannes zu stammen scheint, der
uns den Verhaeren, den großen Ueberwinder der Romantik, den
feurigen Liebhaber alles Wirklichen und Wirksamen so congenial
übersetzt hat. Aus diesem stärkeren Pathos, das noch unsicher und
unfrei durch die Hofmannsthalschen Schleier zu leuchten beginnt, wird
aber vielleicht für Zweig eine Möglichkeit reinerer, dramatischer Ge¬
staltung erwachsen. Sollen die Wiener vielleicht auf dem Umwege
über den undramatischen Verhaeren ein Versdrama erhalten, das mehr
als Hofmannsthalsche Szenenmelancholie ist? Die Geschichte der
Kunst hat noch größere Wunder.
(Schluß toißst)
Till Eulenspiegels Kaisertum
von Felix Braun
ie vieraktige Komödie, die bei Erich Reiß erscheint, wird von
+ Bab in dieser Nummer besprochen. Hier folgt eine Szene des
ersten Aktes.
Die Komödie spielt in Schilda und im Karneval. Die Szene
stellt eine Straße dar, die im nahen Hintergrund durch Häuser
abgeschlossen ist. Man sieht in der Mitte das große fensterlose
Rathaus, rechts daneben, nicht mehr im Prospekt, die kaiserliche Pfalz.
Eine lange Spalierreihe Menschen, die sich heftig drängen, stoßen und
schieben. Lärm und Geschrei.
Zwölf lange aushallende Schläge. Es tritt eine große Stille ein,
die sich mit den lange hinhallenden, weithin vibrierenden Klängen füllt.
Angespanntestes Schweigen in der Menge, keuchender Atem, Vor¬
strecken der Köpfe, nach und nach vereinzelte halblaute Worte. Da —
reitet vorn rechts auf einem Esel in gemessenem Trab Eulenspiegel heran.
Er hat einen Mantel von rotem Stoff umgeschlagen, auf dem kahlen
Haupt eine Krone aus Goldpapier. Die Zugel — es sind Stricke —
hält er mit der einen seiner roten fleischigen Hände, die andre führt
ein kurzes, kommandostabähnliches spanisches Rohr. Sein Gesicht ist
ältlich, gedunsen, bartlos, mit grauen Stoppeln; seine Bewegungen,
auch bei ernsten Worten, die stereotypen Wendungen des Komikers.
Wer ihn lange ansieht, gewahrt einen müden Zug um den Mund.
Seine blauen Augen sind glanzlos, beim Sprechen leuchten sie oft
hell auf, beim ruhigen Schauen wird der Blick oft traurig, sinkt aber
dann sofort in blödes Stieren hinab. Wie er einreitet, ist beispiellose
Stille. Vor dem Bürgermeister hält er; fixiert ihn lang. Der Bürger¬
meister macht Miene, vom Steckenpferd zu springen — es gelingt ihm
nicht. Er macht ein Zeichen zur Menge, als wollte er sie auffordern,
zu rufen. Niemand spricht.
Leises Gemurmel: Das wär der Kaiser? Sonderbar.
Der Kaiser?
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Feracea