VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 20

2. Cuttings box 37/5
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in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, Londen, Madrid, Mailand, Minneaselis, New-Verk.
Paris, Rom, öan Francisce, Stockholm, St. Petersburg.
###ngebe ehne Gewühz).
Ausschnitt aus
Neue Fraie Prosse, Wien
ALAPR 191.
vem:
[„Artur Schnitzler.“ Eine Studie von Josef Karl
=Ratislav. Hagsgesellschaft „Hamburg“ m. b. H.,
41911.] Eine Monographie über Schnitzler. Aber Schnitzler hätte
eine bessere verdient. Der gute Wille ist ja da, der Wille, den
Dichter zu erfassen, und weiter der Wille zur Gerechtigkeit. Aber
der Stil ist spröd und steif, es fehlt jede Kongenialität mit dem
Dichter und aus dem Ganzen weht eine Trockenheit, die sich lähmend
auf den Leser legt wie die Staubluft eines schwülen Sommertages.
In der allgemeinen Charakteristik sagt Ratislav von Schnitzler, er
habe „unter den modernen deutschen Autoren die meiste Verwandt¬
schaft mit den Franzosen. In ihm kommen französischer Esprit und
deutsche Skepfis zu einem angenehmen Ausgleich.... Im Grunde ist
Philosoph und oft erscheint unter der Maske einer
leichten, tändelnden Muse die ernste Faltenstirn des Philo¬
sophen, der über seiner Darstellung steht, dem diese Dar¬
stellung nur Mittel zum Zweck ist.... Aus einem Schüler
des Naturalismus hat er sich längst zu einem führenden Meister
herangebildet.... Seine Technik ist meisterhaft entwickelt, besonders was
die Führung des Dialogs betrifft. Der Einakter ist seine unum¬
schränkte Domäue, vor allem der erolische, den er sich selost als
ein neues Genre geschaffen hat. Im großen Theaterstück wird der
matiker oft vom Seelenmaler vollständig zurückgedrängt.“ Auch
tzlers ursprünglicher Arztberuf und der Einfluß seiner
zugehörigkeit wird nach Gebühr erwähnt. Herr Josef
atislaw cruppiert Schnitzlers Werke nach ihrer inneren Zu¬
ngehörigkeit, und das mag man hinnehmen, obwohl ja über
utressen dieser inneren Zusammengehörigkeit die verschiedensten
Ansichten denkbar sind. Wie handelt nun abev Herr Ratislaw
in dieser Gruppierung die einzelnen Werke ab? Hier ein Bei¬
spiel: „Der Weg ins Freie“, sagt er, „ist in erster Linie ein Be¬
kenntnisroman. Der Dichter und der Mensch Schnitzler reichen
sich die Hände und die Vereinigung von Leben und
Schaffen, von künstlerischem und menschlichem Empfinden ist eine¬
vollkommene. Der Weg ins Freie ist auch ein Wiener Roman.]
Ich müchte aber nicht behaupten, daß Schnitler mit diesem Werk¬
mgeen
S e ne hen e .
den Wiener Roman geben wollte ... Schnitzler ist ein Wiener
Dichter, der seine Menschen aus dem Wiener Milieu herausholt.
Dat ist auch in diesem Roman, der in der Donamtadt spielt, der
Fall, wenngleich es dem Dichter hier auf Größeres ankommt, als
auf einen bloßen Milieuroman. Darum kann man auch nicht sagen,
daß „Der Weg ins Freie“ der Wiener Ghettoroman ist. Denn ab¬
gesehen davon, daß der Held Georg v. Wergentin und seine Ge¬
liebte Anna keine Juden sind, spielt doch der Roman auch in
Kreisen, die dem Ghetto fernstehen. Schnitzler wollte in diesem
Werke an das Problem des Judentums als Bestandteil Oesterreichs
und vielleicht auch des modernen Europa rühren. Er kommt aber
in der Judensrage objektiv nicht weiter, denn sie ist ihm eine ganz
persönliche Frage. Darum ist auch die Dichtung eine ganz per¬
sönliche, an die man mit der Unbefangenheit desjenigen, der ein
Kunstwerk genießen will, herantreten muß, ohne Sensationsgeschrei
und ohne nach Aktualitäten zu suchen. Der Grundgedanke spricht
sich in dem Satze aus: Jede Rasse als solche ist natürlich wider¬
wärtig, nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche Vor¬
zügt mit den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen.“ Wie dieser
Ausschnitt ist die ganze Studie: ein Gemisch von Richtigem und
Faischenn, von recht Naivem und Klugem. Das beweisen auch die
Schlufgeilen des Hestes, die alle Möglichkeiten offen lassen und in
den Worten gipfeln: „Die Annahme ist nicht unberechtigt, daß der
Dichter wie wenig andere berusen ist, das moderne deutsche Lust¬
spiel zu schreiben. Doch auch im ernsten Drama wird er uns noch
manches zu sagen haben, denn seine Themen sind noch lange nicht
erschöpft“ u. s. w. Immerhin läßt sich die Monographie zur
Lektüre empfehlen, denn abgesehen von den positiven Daten, die sie
gibt, gehl sie auf Schnitzlers Schaffen mehr oder minder gründlich
ein sund #ft seine bunten, sarbigen Werke wieder in##hmis,
Atu-Ran so manche lebendige Stunde froh dankte. ##
Julius Krott (Graz).
UC
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Wiener=Kammerspiele.
72
Gerade in Wien, in der Stadt, die dazu mit ihrem ver¬
spielten Naturell geschaffen ist, existieren sie nicht. Oder sind nicht
lebensfähig. Oder stecken in einem Harlekinkostüm. Siehe die
Residenzbühne, das ehemalige Kleine Schauspielhaus und das
Zwitterkind, die Neue Wiener Bühne! Einmal wurden tatsächlich
auch schon Kammerspiele gegründet. Draußen in der Josefstadt
in einem bescheidenen Vortragssaale. Nach drei Vorstellungen war
es aus. Damals waren es aber auch sehr junge Leute mit seligem,
aber unglücklichen Optimismus. Heißatmig stürmten sie mit einem
Strindberg los . . . nach der dritten Vorstellung hatte Wien keine
Kammerspiele mehr. Junge Leute. Unbekannt waren sie auch noch,
also wurden sie übersehen. Wien hat seine „Klassiker",
den
of“
Dr. Willner, den Herrn Bodanzky und alle die vom „Heinrichsho),
„Museum“ und „Dobner“.
Und trotzdem muß man kein überschwenglicher Idealist sein,
um den Lebensnerv von Kammerspielen Wien nicht abzusprechen.
Der richtig sehende Mann müßte sich finden. Der Wagende.
Was in Berlin die Reinhardtschen Kammerspiele bedeuten, eine
Oase im modernen Hexenchaos, würde in Wien Ureigenstes sein.
Ganz Selbstverständliches. Die jungen Leute haben damals gefehlt,
daß sie mit Strindberg anfingen. Sie hätten mit einem zarten
Lustspiel beginnen sollen . . . von Esmann oder einem Schauspiel
von Schmidtbonn oder einer Komödie von Shaw. Die Wiener
müssen zu allem immer erst erzogen werden, und so wäre es vielleicht
erst später der Fall gewesen, daß die Leute zu Ibsen, zu Hofmanns¬
thal, zu Verhaerren hineingeströmt wären. In Berlin ist es
anders; da gelten Björnson und Ibsen als aparte Leckerbissen
und gehören zu Bedingnissen des Berlin W—Parvenu s’amuse.
In Wien wäre es Instinkt einer gesünderen Rasse, Ibsen zu hören,
wäre es ein tief verborgenes Andachtsgefühl. Der Instinkt aber
muß erst erweckt werden in den saumseligsten, verspieltesten und
naivsten aller Städter unseres Kontinents. Reine, väterliche
Erziehung brauchen die lieben Wiener. Nicht zu streng und nicht
zu gut. Reinhardt kann in Berlin Diktator sein. Die Berliner
werden nicht mucksen. Brahm, der strenge Erzieher, gewinnt sie
mit Gebärden. Am königlichen Schauspielhaus aber können sie
auch einen Monat lang ohne Unterbrechung Benedix, Raupach
und Lardon spielen. Die Berliner werden nicht mucksen. Nicht
aus Indolenz. Aus dem Wesen, das durch lauter Hast und Inter¬
nationalität das heilige Glaubensgefühl am Theater verloren hat.
Ihnen ist irgend ein Theaterskandal, mit Geschrei und Pfeifen
eine Befreiung. Die ärmsten Beladenen! In Wien ist es
anders. Und deshalb kann man in dieser noch nicht so verkieselten
Stadt das wunderschöne Werk beginnen. Erschaffet Kammerspiele!
Mit ein bißchen Erziehung und vielleicht auch mit ein bißchen
stehen sie einander auch im Wege. Es ist daher ihre Vereinigung
geplant worden und an der baldigen Verwirklichung des Planes
ist wohl nicht zu zweifeln, denn unlängst spielte das Tonkünstler¬
orchester in Graz unter der Leitung Spörrs.
Die Chorvereine zeigen gegenwärtig so ziemlich das gleiche
Bild wie im Vorjahre. Der Singverein unter Schalk erstrebt Bedeu¬
tendes und leistet Erfreuliches. Seine eifrige Bachpflege ist zu
rühmen; auch Händels „Samson“ und Schuberts Es-dur-Messe
waren gut gewählt und wurden befriedigend herausgebracht. Freilich,
wer die „Jahreszeiten“ vom Singverein, die „Schöpfung“ vom
Sängerbunde „Dreizehnlinden“ gehört hat, der weiß, wo einzig
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