VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 21

2. Cuttings
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Schnörkelarbeit ins bessere Blumenthalsche und Dörmannsche
hinüber muß es gelingen.
Kammerspiele! Die bloße Vorstellung weckt altwiener
Gefühle und Kunstneigungen. Raimunds Zauberpossentheater,
in der Leopoldstadt unten, war eine Art von Kammerspielen.
Intimsten Kontakt hatten er, Ignaz Schuster, die Krones und alle
übrigen. Solch lieben Kontakt, als ob die auf der Rampe und
die im Zuschauerraum Brüder und Schwester wären, die sich zur
gegenseitigen Freude was vorspielen und vorspielen lassen. Und
deshalb sind auch Raimunds Stücke alle so warm und aus Herz
greifend und nur aus dieser warmblütigen Intimität heraus ist
auch das Lied „Brüderlein fein“ und das Hobellied entstanden,
und nur in einem zärtlichsten Urväterraum konnte wurzeliger
Nestroy=Humor gedeihen. Wie traurig und forciert sind die Witze
in unseren Operetten. In ihnen ist der Humor Fabriksware ge¬
worden. Damals war Humor aus Gefühl strömend, war eine
unbezwingbare Lust beißend zu sein oder war so übermütig¬
mürrisch, aber echt dabei, daß man wieder zum Kinde wurde
im Lachen und in allerreinster Fröhlichkeit. Alt=Wien aber ver¬
schwand. Und mit ihm auch diese Theater.
Doch nicht die Theaterstadt schwand. Wien ist es heute
genau so wie früher. Nur verfahren. Der richtige Lenker muß
kommen. Die großen Theater kamen nach den kleinen, stillen, alt¬
wienerischen. Und diese entfremdeten Wien der Literatur. Die
großen Theater entfremdeten Wien der Literatur. Das Burg¬
theater in seiner unglückseligen Größe. Jedes feinere Stück ver¬
hallt dort. Und im Deutschen Volkstheater wirkt zwar ein
angenehm=prickelnder Molnar und ein feuilletonistischer Salten,
ein hausbackener Ohorn und die schmackhafte Teebäckerei der
Firmen Caillavet de Flers. Shaw aber verzappelt sich bereits im
Deutschen Volkstheater. Und sogar Schnitzler hat dort nur müh¬
selig seine Lebensfrist. Und an wie viele wagt sich dieses Theater
überhaupt nicht heran? Ja, nicht einmal Gerhardt Hauptmann
führt es auf. So traurig ist es um Wien geworden. Und dann
kam die Operette, wirkend wie ein Kinematograph, die Massen
heranzi hend. Und mit Allem kam auch der Schlendrian, wühlend
und zernagend. In Wien zerstörte er die Aufführung von
Klassikern, eine heißblütige, strömende Jugend drückte er nieder,
und jede freie Triebkraft zerstörte er.
Und so hat das Fehlen von einem kleinen Theater in Wien
dazu beigetragen, daß es so traurig kam. Eben ein Theater in
Form von Kammerspielen, in dem die Stücke gespielt werden
können, in dem man Schnitzler und Ibsen, Wedekind und
Wilhelm Scholz erleben kann. Nicht nur in die Premiere
hineinlaufen, wie's beim Volkstheater der Fall ist. Fühlen muß
man diese Dramen; mit Hitze und Andacht in sich aufnehmen.
Kann man dies jetzt in einem Theater Wiens? Schaffe einer
die Kammersviele!
In Kammerspielen könnte sich Wien krystallisieren. Vor
allem wäre es die Bühne, die einzige Bühne Wiens, für Arthur
Schnitzler. Von seinem „Anatol“ bis zur „Schleier der Beatrice“
Aber man wird auch ein Größpapastück geben können, zur vielen
Freude mancher: einen alten, ehrlichen Bauernfeld und Raimund
könnte man spielen, so wie er zu spielen gehört, fein abgetönt,
in seiner Frühlingsabendstimmung. (Jetzt spielt man ihn als
Ausstattungsposse, wie den Böhm in Amerika“.) — Und vor
allem: Entwicklungsmöglicheiten würde diese Bühne für junge
Dichter bilden können, für unser frühlingsgärendes Jungwien.
Und wenn man schließlich die verdorbenen Wiener erziehen
wird Erziehung brauchen sie einmal unbedingt — dann werden
Kammerspiele in Wien das
sein, das sie sind: Das Selbstver¬
ständlichste und Ureigenste!
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