VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 54

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2. Cuttings
Ausschnitt altewziger Neugste Nachrichies
vom:
10 1312
Airmodernen Literatur.
Arthur Schnitzler als Psycholog. Von Dr. Theodor Reik Minden,
Verlag
3 Preis geh. 4 Mk. Immer mehr nimmt
die literarhistorische uno philosophische Betrachtung die älteren Dichter
unserer lebenden Generation in ihren Kreis auf. Ueber Hauptmann
existiert bereits eine ganze Literatur. Nun scheint auch der Wiener
feine Sexualpsycholag Schnitzler als Versuchsobjekt dienen zu müssen.
Sehr eingehendeörtert der Vorfasser die Sexualpsychologie dieses
Wieners und kojmt dabei auf eine Reihe recht eigenartiger Ent¬
deckungen. Menschen, die an dem st##ischen Hedonismus Schnitzlers
Geschmack und Werte finden, werden dieses Buch nicht ohne Interesse
lesen und für manchen vielluicht nur flüchtig empfundenen Eindruck
eine neuartige Erklärungans der Lektüre gewinnen.
B. T.
—.—

Husschnitt aus:
Die Wage, Wien
vom: APf. 1974
E
(Hans Natonek (Halle a. S.).
Psychoanalyse und Literatur.
(Randbemerkungen zu Dr. Theodor Reiks: „Arthur Schnitzler als Psycholog“.*)
Eine neue Methode der Literarrverrächtung künder=sich-aus¬
seit nicht allzulanger Zeit, nicht immer sehr sympathisch und mit
wechselndem Gelingen. Die Psychoanalyse hat die Neuheit und
manches Frappierende für sich und konnte die Hoffnungen, die
man diesem Wissenszweig als einem belebenden Element der
Literaturgeschichte entgegenbringt, ob seiner Jugend noch nicht
enttäuschen; aber das wird schon noch kommen.
Die Psychoanalyse in der Literaturgeschichte, neben histo¬
rischen, ästhetischen, kritischen Erwägungen, dürfte sich auch schon
vor S. Freud nachweisen lassen. Aber es ist sozusagen un¬
bewußte Psychoanalyse. Bewußt zur vorherrschenden Methode
bei Betrachtung von Dichter und Dichtung gemacht, bildet die
Psychoanalyse ein Novum.
Von Dr. Theodor Reik ist ein Buch erschienen: „Arthur
Schnitzler als Psycholog. Im Vorwort schreibt der Autor pro¬
grammatisch: „Die folgende Untersuchung verzichtet von vorne¬
herein auf ästhetische Wertungen und verfolgt nur wissenschaft¬
liche Zwecke.“ Und im Schlußwort: „Literaturbetrachtung sei im
wesentlichen angewandte Seelenkunde. Der Kritiker sei ein Psycho¬
loge ... Die Beheit des Literarhistorikers sei feelische Tiefsee¬
forschung.“ Nach dem Vorwort also hat die psychologische Analyse
zur Literatur kein anderes Verhältnis als zum Leben selbst, als
zu irgend einem Objekt, das die Psychoanalyse zum Gegenstand
*) Im Verlage von L. C. C. Bruns, Minden i. W.
ihrer Untersuchungen macht. Der Hauptton ruht auf Psycho¬
logie; daß sie die Dichtung aufs Korn genommen hat, ist mehr
oder minder nebensächlich und zufällig. Im Schlußwort ist der
Standpunkt (von dem man annehmen darf, daß es der Stand¬
punkt des Buches ist) gewechselt: Die psychoanalytische Durch¬
forschung des Dichterwerkes gilt dem Autor als die beste Art,
Literaturhistorie zu treiben. Im Vorwort ist die Psychoanalyse
Zweck, die Dichtung nur Gegenstand und Mittel der Unter¬
suchung. Im Schlußwort ist die Psychoanalyse Mittel zu lite¬
rarischen Erkenntniszielen.
Der ausgesprochene Verzicht auf ästhetische Wertung ist eine
Schutzmaßregel gegen bedenkliche Frager. Er will vorbeugen, er
deutet auf die wundeste Stelle und sagt: hier nicht anrühren!
Dadurch aber, daß Reik bei Betrachtung eines Dichter=Lebens¬
werkes, von vorneherein auf ästhetische Wertung verzichtet, ist er
nicht entschuldigt, wenn er es auch wirklich tut! Umsoweniger, als
er in seinem Schlußwort die Psychologie als beste, fast einzige
Methode der Literaturbetrachtung ausruft. Daß bei der psycho¬
logischen Zerfaserung einer Dichtung etwas Ersprießliches für die
Psychoanalyse herauskommt, mag sein; ob es aber der Dichtung
zugute kommt, wenn man sie durch das psychoanalytische Prisma
betrachtet — das ist hier die Frage; und deshalb wäre es gut
gewesen, Reik hätte seinen Standpunkt reinlicher und wider¬