VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 55

Hans Natoneit (hae 6
Psychoanalyse und Literatur.
(Randdemerkungen zu Dr. Theodor Reiks: „Arthur Schnitzler als Pfycholog“.*)
Eine neue Methode der Literarerverrachtung künder -firh-auz.
seit nicht allzulanger Zeit, nicht immer sehr sympathisch und mit
wechselndem Gelingen. Die Psychoanalyse hat die Neuheit und
manches Frappierende für sich und konnte die Hoffnungen, die
man diesem Wissenszweig als einem belebenden Element der
Literaturgeschichte entgegenbringt, ob seine. Jugend noch nicht
enttäuschen; aber das wird schon noch kommen.
Die Psychoanalyse in der Literaturgeschichte, neben histo¬
rischen, ästhetischen, kritischen Erwägungen, dürfte sich auch schon
vor S. Freud nachweisen lassen. Aber es ist sozusagen un¬
bewußte Psychoanalyse. Bewußt zur vorherrschenden Methode
bei Betrachtung von Dichter und Dichtung gemacht, bildet die
Psychoanalyse ein Novum.
Von Dr. Theodor Reik ist ein Buch erschienen: „Arthur
Schnitzler als Psycholog.“ Im Vorwort schreibt der Autor pro¬
grammatisch: „Die folgende Untersuchung verzichtet von vorne¬
herein auf ästhetische Wertungen und verfolgt nur wissenschaft¬
liche Zwecke. Und im Schlußwort: „Literaturbetrachtung sei im
wesentlichen angewandte Seelenkunde. Der Kritiker sei ein Psycho¬
Die Arbeit des Literarhistorikers sei seelische Tiefsee¬
loge
forschung.“ Nach dem Vorwort also hat die psychologische Analyse
zur Literatur kein anderes Verhältnis als zum Leben selbst, als
zu irgend einem Objekt, das die Psychoanalyse zum Gegenstand
*) Im Verlage von L. C. C. Bruns, Minden i. W.
ihrer Untersuchungen macht. Der Hauptton ruht auf Psycho¬
logie; daß sie die Dichtung aufs Korn genommen hat, ist mehr
oder minder nebensächlich und zufällig. Im Schlußwort ist der
Standpunkt (von dem man annehmen darf, daß es der Stand¬
punkt des Buches ist) gewechselt: Die psychoanalytische Durch¬
forschung des Dichterwerkes gilt dem Autor als die beste Art,
Literaturhistorie zu treiben. Im Vorwort ist die Psychoanalyse
Zweck, die Dichtung nur Gegenstand und Mittel der Unter¬
suchung. Im Schlußwort ist die Psychoanalyse Mittel zu lite¬
rarischen Erkenntniszielen.
Der ausgesprochene Verzicht auf ästhetische Wertung ist eine
Schutzmaßregel gegen bedenkliche Frager. Er will vorbeugen, er
deutet auf die wundeste Stelle und sagt: hier nicht anrühren!
Dadurch aber, daß Reik bei Betrachtung eines Dichter=Lebens¬
werkes, von vorneherein auf ästhetische Wertung verzichtet, ist er
nicht entschuldigt, wenn er es auch wirklich tut! Umsoweniger, als
er in seinem Schlußwort die Psychologie als beste, fast einzige
Methode der Literaturbetrachtung ausruft. Daß bei der psycho¬
logischen Zerfaserung einer Dichtung etwas Ersprießliches für die
Psychoanalyse herauskommt, mag sein; ob es aber der Dichtung
zugute kommt, wenn man sie durch das psychoanalytische Prisma
betrachtet — das ist hier die Frage; und deshalb wäre es gut
gewesen, Reik hätte seinen Standpunkt reinlicher und wider¬
spruchslos (obzwar ich sonst nicht so hin!) umschrieben und uns
gesagt, ob er Literatur meint oder Psychoanalyse.
Neurotiker und Dichter sind eines Stammes. Von jenem
wußte man ohne die Forschungen der Psychoanalyse nur sehr
wenig. Von diesem ahnte man manches auch ohne sie. Man ahnte,
daß der Dichter Gedanken, Worte, feelische Vorgänge wie wirk¬
liches Geschehen wertet; daß ihm die Kunst Ersatz für das Leben
ist, vor dem er sich fürchtet, oder nach dem er sich sehnt, ohne die
Kraft zu besitzen, es sich untertänig zu machen. Die Psychoanalyse
verhalf diesen Ahnungen (und vielen anderen) zur Bewußtheit;
(das tut die Psychoanalyse mit Vorliebe!). Sie erkannte das
Wesen des Neurotikers, sie zog Verbindungslinien zwischen ihm
und dem Dichter, sie lieh seelischen Vorgängen eine Terminologie,
gegen die nichts einzuwenden wäre, solange sie nicht in die Sprache
eindringt. Das ginge alles noch an; aber: seitdem die Neurotiker
mit den Dichtern gehen, gehen die Psychoanalytiker mit den Literar¬
historikern. Und hier setzen wieder unsere Bedenken ein.
Der Kunst ist das Psychologische nicht Selbstzweck. Die
Dichtung will nicht die innersten Mechanismen und Triebwerke
der Psyche aufdecken. Ihre Ziele liegen ganz anderswo. Sie will
nicht angewandte Psychologie sein. Wenn sie es ist, so ist sie das
nur ganz nebenher, so hat sie die seelischen „letzten Dinge“ nur
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