VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 57

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K
MAl 1914
Literaturwissenschaftliches
AxtbunSchuihler.—Von Nobert Roseen. Berlin,
Verlag Neues Leven, Wilhelm Borngräber. 57 S.
Der sympathische Ton aufrichtiger Hochachtung und
herzlicher Zuneigung, dem man so häufig bei kritischen
Würdigungen Schnitzlers begegnet, klingt auch aus der
Studie, die Dr. Rohert Roseen jüngst seinem Schaffen
gewidmet hat. Deutlich spürt man, wie ihm die Wanderung
durch des Dichters gestaltenbunte und schicksalsreiche Welt
zu einem tiefen Erlebnis geworden ist; daß er sich gut
in ihr zurechtzufinden wußte, beweist manches kluge, auf¬
hellende Wort über ihr Klima, ihre Weiten und Höhen.
Er erzählt von den Menschen Schnitzlers, von den Wir¬
rungen, in die sie ihr Fatum verstrickt; doch vor allem
sucht er ein deutliches Bild der Weltanschauung zu geben,
die aus Schnitzlers Werken spricht, und das Lebensgefühl
zu zeigen, das sie beseelt. Und wie er eingehend das
Nahverwandte der Motive, die überraschende Ahnlichkeit
vieler Gestalten in Novellen und Dramen aufweist, so
gelingt es ihm auch, aus dieser vergleichenden und
analysierenden Betrachtung der Dichtungen ein sehr lebens¬
volles, überzeugendes Porträt des Dichters zu gewinnen.
In seiner Beurteilung der einzelnen Schöpfungen
Schnitzlers vermochte ich Dr. Roseen nicht immer beizu¬
stimmen; doch stets erfreute mich sein stark hervortretendes
Bestreben, die vielen Schönheitswerte, die die Werke des
Dichtes bergen, aufzuspüren und seiner Kunst neue Freunde#
zu werben.
Berlin
Wilhelm Sudi
Ausschnitt an
Vterarisches Gentralbiant, Leipzig
Rehlb. 197
vom:
V KSPAHENN
Verschiedenes.
Reik, Th., Arthur Schnihler als Psycholog. Minden i. W.,
Bruns. (VIII, 203-678.]
geb. N 5; in Leder = 7, 50.
Der am gleichen Orte mit Schnitzler lebende und ihm
wohl auch befreundete Verf. will Schnitzlers Werke „im
Lichte einer neuen, vertieften Seelenkunde betrachten“ (S. 266),
als welche er im Vorwort Freuds psychoanalytische Methode
empfiehlt. Wie „Dichter seit jeher der wissenschaftlichen
Psychologie vorausgeeilt sind“ (S. 266), so sei auch Schnitz¬
ler, der Arzt und Dichter in einer Person, in seinen Ge¬
stalten, die wir als wirklich lebende Menschen zu analy¬
sieren hätten, von Strömungen des Unterbewußtseins aus
gegangen, deren Kompliziertheit sich die Schulweisheit früherer
Zeiten nicht habe träumen lassen. „Aus dem Kampfe mit#
diesen dunklen Triebgewalten erwächst der starke und un
vergängliche Wert, das Bleibende in Schnitzlers Dichtung.“
Ich stelle den Wiener Dichter mit an die erste Stelle unter
den lebenden Schriftstellern, aber was in den Werken unseren
Zeitgenossen von Dauer ist, wer wagt dies heute zu bes
stimmen? Eines der von Reik mit Recht besonders ge
rühmten Motive Schnitzlers, die „Allmacht der Gedanken“
die in ihrem Gefolge die Gedankensünden hat, ist nicht so
wie R. meint, Schnitzler eigen. Wir finden das Motik
schon in Sudermanns „Geschwister“ (1888), wie wieder in
Alice Fliegels eigentümlicher „Totenwache“ (1907). Unf
in beiden Erzählungen ist auch das von R. an zweiter Stelll
neLireratur. — 3. Mul.

behandelte Problem des Todes, das (S. 33) „mit feind¬
seligen Wünschen gegen eine geliebte oder mindestens nahe¬
stehende Person zusammenhängt", mit der eingebildeten
Macht schuldiger Gedanken verbunden.
R.s beiden einleitenden Abschnitten mag man zustimmen,
die folgenden dürfen nicht ohne entschiedensten Widerspruch
bleiben. Natürlich hat R. recht, wenn er für die litera¬
rische Betrachtung mehr seelische Analysen verlangt. Diese
Forderung hat ja bereits Elster in seinen „Prinzipien“ auf¬
gestellt. R. aber verfährt als folgerichtiger, zum äußersten
gehender Schüler Freuds. Und diese Neigung, gar alle
Seelenvorgänge und Handlungen im Traum und Wachen
auf geschlechtliches Verlangen zurückzuführen, ist selber eine
krankhafte, ein Ausfluß von Zwangsneurose, um R.s Lieb¬
lingswort zu gebrauchen. Grund der Eifersucht sei un¬
bewußte homosexuelle Neigung; das Naturgemäße (!) sei die
starke Abneigung der Söhne gegen die Väter und der Wunsch
an ihrer Stelle der eigenen Mutter Kinder zu machen, der
bis zum Todeswunsch gehende geheime, gegenseitige Haß
der Geschwister. Auch der Mutter sei das Inzestverlangen
natürlich, die ältere Frau befriedige es mit jüngeren Lieb¬
habern als Ersatzmännern für den eigentlich verlangten Sohn.
Und diese Triebe will R. nun in allen Dichtungen Schnitz¬
lers herausfinden. Er behauptet aber (S. 169) auch, es
gebe keinen unter uns, der als Kind nicht Inzestphantasien
erlebt hätte, und in der Motivation seiner Liebeswahl und
seiner ganzen Einstellung zum Weibe beweise auch jeder Er¬
wachsene die tiefgehende Wirkung jener Kindheitswünsche.
Die Träume von Bergsteigen, Wasser und Musik zielten
auf Besitz des Weibes, der Traum eines Fiedelbogens ent¬
springe dem Verlangen nach einem aufgerichteten, männ¬
lichen Gliede 2c.
Der alte Spruch sagt, man solle mit dem von anderen
Grundsätzen Ausgehenden nicht disputieren. Allein hier
handelt es sich eben um die Zurückweisung von Grundsätzen,
die unser ganzes Volksleben wie unsere deutsche Kunst zu
verwirren drohen. Es ist nur ein Zeichen des Verfalls
der Rasse, wenn in dem Volke, von dem noch der Aesthetiker
Fr. Th. Vischer die Beibehaltung der „sera Venuse forderte,
heute alles auf sexuelle Fragen und Beweggründe zurück¬
geführt wird. Diese neueste naturwissenschaftliche Erklärungs¬
art, eine psychologische Pseudowissenschaft, weisen wir als
Grundlage von Dichtung und Dichtererklärung auf das ent¬
schiedenste ab als eine Vergiftung von Leben und Kunst.
Ist man doch auf Grund der Freudschen Theorien schon