VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 58

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ler, der Arzt und Auchter un
stalten, die wir als wirklich lebende Menschen zu analy¬
sieren hätten, von Strömungen des Unterbewußtseins aus¬—
gegangen, deren Kompliziertheit sich die Schulweisheit früherer
Zeiten nicht habe träumen lassen. Aus dem Kampfe mit
diesen dunklen Triebgewalten erwächst der starke und un¬
vergängliche Wert, das Bleibende in Schnitzlers Dichtung.“
Ich stelle den Wiener Dichter mit an die erste Stelle unter
den lebenden Schriftstellern, aber was in den Werken unserer
Zeitgenossen von Dauer ist, wer wagt dies heute zu be
stimmen? Eines der von Reik mit Recht besonders ge
rühmten Motive Schnitzlers, die „Allmacht der Gedanken“.
die in ihrem Gefolge die Gebankensünden hat, ist nicht so
wie R. meint, Schnitzler eigen. Wir finden das Motik
schon in Sudermanns „Geschwister“ (1888), wie wieder in
Alice Fliegels eigentümlicher „Totenwache“ (1907). Uns
in beiden Erzählungen ist auch das von R. an zweiter Stell¬
ne Literain — 9. Mul.
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behandelte Proviem des Todes, das (S. 33) „mit feind¬
seligen Wünschen gegen eine geliebte oder mindestens nahe¬
stehende Person zusammenhängt“ mit der eingebildeten
Macht schuldiger Gedanken verbunden.
Res beiden einleitenden Abschnitten mag man zustimmen,
die folgenden dürfen nicht ohne entschiedensten Widerspruch
bleiben. Natürlich hat R. recht, wenn er für die litera¬
rische Betrachtung mehr seelische Analysen verlangt. Diese
Forderung hat ja bereits Elster in seinen „Prinzipien“ auf¬
gestellt. R. aber verfährt als folgerichtiger, zum äußersten
gehender Schüler Freuds. Und diese Neigung, gar alle
Seelenvorgänge und Handlungen im Traum und Wachen
auf geschlechtliches Verlangen zurückzuführen, ist selber eine
krankhafte, ein Ausfluß von Zwangsneurose, um R.s Lieb¬
lingswort zu gebrauchen. Grund der Eifersucht sei un¬
bewußte homosexuelle Neigung; das Naturgemäße (1) sei die
starke Abneigung der Söhne gegen die Väter und der Wunsch
an ihrer Stelle der eigenen Mutter Kinder zu machen, der
bis zum Todeswunsch gehende geheime, gegenseitige Haß
der Geschwister. Auch der Mutter sei das Inzestverlangen
natürlich, die ältere Frau befriedige es mit jüngeren Lieb¬
habern als Ersatzmännern für den eigentlich verlangten Sohn.
Und diese Triebe will R. nun in allen Dichtungen Schnitz¬
lers herausfinden. Er behauptet aber (S. 169) auch, es
gebe keinen unter uns, der als Kind nicht Inzestphantasien
erlebt hätte, und in der Motivation seiner Liebeswahl und
seiner ganzen Einstellung zum Weibe beweise auch jeder Er¬
wachsene die tiefgehende Wirkung jener Kindheitswünsche.
Die Träume von Bergsteigen, Wasser und Musik zielten
auf Besitz des Weibes, der Traum eines Fiedelbogens ent¬
springe dem Verlangen nach einem aufgerichteten, männ¬
lichen Gliede 2c.
Der alte Spruch sagt, man solle mit dem von anderen
Grundsätzen Ausgehenden nicht disputieren. Allein hier
handelt es sich eben um die Zurückweisung von Grundsätzen,
die unser ganzes Volksleben wie undere deutsche Kunst zu
verwirren drohen. Es ist nur ein Zeichen des Verfalls
der Rasse, wenn in dem Volke, von dem noch der Aesthetiker
Fr. Th. Vischer die Beibehaltung der =sera Venuse forderte,
heute alles auf sexuelle Fragen und Beweggründe zurück¬
geführt wird. Diese neueste naturwissenschaftliche Erklärungs¬
art, eine psychologische Pseudowissenschaft, weisen wir als
Grundlage von Dichtung und Dichtererklärung auf das ent¬
schiedenste ab als eine Vergiftung von Leben und Kunst.
Ist man doch auf Grund der Freudschen Theorien schon
soweit gekommen, Hamlets Haß gegen den Oheim auf Ver¬
langen nach eigenem geschlechtlichen Besitz der Mutter zurück¬
zuführen, Richard Wagners Siegfried nur als eine psycho¬
pathische Figur gelten lassen zu wollen. R.s Buch ist ein
Musterbeispiel dafür, wie uns an Stelle gesundkräftiger
deutscher Dichtung krankhafte Perversität als einziges Pro¬
blem der Dichtung untergeschoben werden soll. Mir wenigstens
gibt R. keinen Aufschluß über Schnitzlers Psychologie, sondern
wäre eher geeignet, mir meine bisherige Vorliebe für Schnitz¬
ler zu zerstören. Aber es handelt sich bei der Zurückweisung
R.s und seines Meisters Freud nicht um diese und einen
einzelnen Dichter, sondern darum, daß nicht absurde Sexual¬
theorien, die beinahe krankhafte Vorstellungen ihrer Urheber
vermuten lassen, in der Kunst alle gesunden Begriffe unter¬
graben. Nicht Stein, das wäre noch erträglich, sondern
Gift wird unserer deutschen Jugend mit solchen Theorien
für Brot geboten.
Max Koch.