VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 60

2. Cuttings box 37/5
Fränkischer Kurier, Nürnberg.
25. Mai 1914. Seite 5.

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25. Mai 1914.
Schlußwort is die Psychoanalyse Mittel zu literari= Dichtung kommt es nicht so sehr auf das Räderwerk Kapitel „Von der Gerechtigkeit des Dramatikers“.
schen Erkenntniszielen.
der Motive als auf die Bewegung an, die es bewirkt. Auf die gelungenen Einzelheiten sei nicht eingegangen.
Der ausgesprochene Verzicht auf ästhetische Wertung
Und in der Bewegung, in der Erscheinung, in Resul= Denn das Bedeutende, um das es sich hier handelt, ist
ist eine Schutzmaßregel gegen bedenkliche Frager. Er
taten das Räderwerk wie durch Schleier ahnen zu
der Versuch, die psychoanalytische Methode in die lite¬
will vorbeugen, er deutet auf die wundeste Stelle und
lassen, das ist eben die Kunst der Dichtung.
ratische Betrachtung einzuführen. Bei allem (ost
sagt: hier nicht anrühren! Dadurch aber, daß Reik bei
Was ist für das Verständnis des Hamlet=Problems
wunderbaren) psychologischen Scharfsinn, bei allen
Betrachtung eines Dichter=Lebenswerkes von vorn¬
getan, wenn eine psychoanalytische Literaturbetrach¬
unfreiwilligen Humoren psychoanalytischer Kuriosa
herein auf ästhetische Wertung verzichtet, ist er nicht
tung es auf dem Inzest=Motiv basiert? Das Bei¬
(wofür ich Beispiele in Hülle geben könnte) bleibt
entschuldigt, wenn er es auch wirklich tut! Um so
spiel ist lehrreich: Hamlet fühlt sich zur Rache für die
dieses Buch und seine Methode unerkreulich. Die
weniger, als er in seinem Schlußwort die Psychologie Ermordung seines Vaters so mächtig angespornt —
Psychoanalyse kann vielleicht manche Innenvorgänge
als beste, fast einzi: Methode der Literaturbetrach= aus einem Gefühl der Neue: er „überkompensiert“ die
des Lebens deuten, aber über das Wesen des Kunst¬
tung ausruft. Daß bei der psychologischen Zerfase¬
zu Lebzeiten seines Vaters empfundenen Haßregungen
werks weiß sie uns nichts zu sagen. Die Ueber¬
rung einer Dichtung etwas Ersprießliches für die
nun überreich mit Liebe. Der Haß gegen den Vater
schätzung des Erotischen in Schnitzlers Dichtung —
Psychoanalyse herauskommt, mag sein; ob es aber der
aber wird mit den aus der frühesten Kindheit her¬
eine Lebensauffassung, die wir an ihm lieben — mag
Dichtung zugute kommt, wenn man sic durch das
rührenden „infantilen“, im Heranwachsenden „un¬
die Psychoanalytiker mit ihrer schematischen Witte¬
psychoanalytische Prisma betrachtet — das ist hier bewußt stabilisierten“, erotischen Gefühlen für die rung des Sexuellen hinter allen Vorgängen mensch¬
die Frage; und deshalb wäre es gut gewesen, Reik
Mutter erklärt. Dieses sehr beliebte Schema der
lichen Innenlebens in Scharen anlocken. Aber weder
hätte seinen Standpunkt reinlicher und widerspruchs¬
literarischen Psychoanalytiker wird auch bei Theodor
die Dichtung noch die Psychoanalyse wird uns liebens¬
los (obzwar ich sonst nicht so bin!) umschrieben und
Reik bis zum Ueberdruß in Schnitzlers Stücke hinein¬
werter, wenn diese nachweist, daß in iener alles
uns gesagt, ob er Literatur meint oder Psychoanalyse.
gepreßt. Gewiß, Schnitzler hat das Inzestmotiv be¬
psychoanalytisch stimmt; und diese unfruchtbare Auf¬
handelt, aber wo er es tat, ist er, bei aller dichterischen
gabe scheint Reik sich gestellt zu haben; er glaubt die
Neurotiker und Dichter sind eines Stammes. Von
Verarbeitung und Einkleidung, deutlich genug, so daß
Trefflichkeit der Schnitzlerschen Dichtung zu beweisen,
jenem wußte man ohne die Forschungen der Psycho¬
nicht erst ein Psychoanalytiker kommen muß, um es
wenn er zeigt, daß das „System Freud“ in ihr intuitiv
uns zu zeigen. Und wo der normale Leser von einem
analyse nur sehr wenig. Von diesem ahnte man
dichterischen Ausdruck gefunden hat. Der Dichter hat
manches auch ohne sie. Man ahnte, daß der Dichter
Inzestmotiv nichts merkt, da wollen wir nicht, daß der
sich (unbewußt) bemüht, den sexuellen Ursprung alles
Gedanken, Worte, seelische Vorgänge wie wirkliches
Psychoanalytiker eines herausdeute, selbst wenn er
menschlichen Tuns und Wollens zu verhüllen, der
Geschehen wertet; daß ihm die Kunst Ersatz für das
recht hätte. Unmöglich kann es im Sinn des Dichters
Psychoanalytiker bemüht sich um den umgekehrten
Leben ist, vor dem er sich fürchtet, oder nach dem er
und der Dichtung liegen, immer auf den vagen
Vorgang. Und das alles geschieht in einer Sprache,
sich sehnt, ohne die Kraft zu besitzen, es sich unter¬
sexuellen Ursprung, auf den Keim zu weisen, der den
die sich mit Haut und Haar einem Jargon, den die
tänig zu machen. Die Psychoanalyse verhalf diesen
Vielfältigkeiten menschlichen Fühlens und Handelns
Psychoanalyse herauszubilden für nötig hielt, ver¬
Ahnungen (und vielen anderen) zur Bewußtheit (das
zugrunde liegt. Diese Methode, immer bis auf die
schrieben hat. Ein Autor dem der Satz gelingt: „Die
tut die Psychoanalyse mit Vorliebe!). Sie erkannte
Sexualzelle zurückzugehen, Leben und Dichtung ins
Vergänglichkeit irdischer Beziehungen ist der Grund¬
das Wesen des Neurotikers, sie zog Verbindungs¬
Psychoanalytische zu übersetzen, verleidet uns die Dich¬
zug und die tiefe Unsicherheit menschlicher Verhält¬
linien zwischen ihm und dem Dichter, sie lieh seelischen
tung, selbst wenn der Psychoanalyse eine scharfsinnige
nisse“ hat es nicht nötig, ein Deutsch zu schreiben wie
Vorgängen eine Terminologie, gegen die nichts ein= Deutung gelingt. (Wie das Leben, psychoanalytisch
dieses: „Die früher sublimierren homosexuellen Ge¬
zuwenden wäre, so lange sie nicht in die Sprache ein¬
betrachtet, wegkommt, liegt außerhalb der Grenzen
fühlsbeziehungen werden bei der Paranoia mit un¬
dieses Themas).
dringt. Das ginge alles noch an; aber: seitdem die
sublimierter Libido besetzt und das Ich sucht sich durch
Neurotiker mit den Dichtern gehen, gehen die Psycho¬
Wenn ich einen wundervollen Hymnus auf die
den Verfolgungswahn dieses Libido=Ansturms zu er¬
analytiker mit den Literarhistorikern. Und hier setzen
Sonne lese und ein Physiker kommt und zeigt mir das
wehren“; wenn es der Autor dennoch tut, so muß
wieder unsere Bedenken ein.
Spektrum des lichtspendenden Körpers, so bin ich man ihn als ein Opfer der Psychoanalyse bezeichnen.
irritiert, so rufe ich: ich will nichts wissen! Der lite.] Wie der große Einfluß und die Anziehungskraft der
rarische Seelentiefenforscher aus der Schule Freud Psychoanalyse auf die Zeitgenossen zu erklären ist —
Der Kunst ist das Psychologische nicht Selbstzweck.
gibt das psychoanalytische Spektrum der Dichtung; das mag sie selbst auf ihre Art deuten. Aber — um
Die Dichtung will nicht die innersten Mechanismen
sie, deren höchste Wirkung Synthese heißt! — Wem
Gottes willen — die produktive und reproduzierende
und Triebwerke der Psyche aufdecken. Ihre Ziele
zum Danke? Dem Dichter, der Dichtung, dem Leser?
Literatur bleibe von ihr verschont. Das Unter¬
liegen ganz anderswo. Sie will nicht angewandte
bewußtsein ist uns nicht lästig, noch stört es uns, aber
Psychologie sein. Wenn sie es ist, so ist sie das nur
über die Hemmungen, die die Psychoanalyse aus dem
ganz nebenher, so hat sie die seelischen „letzten Dinge“
Es finden sich in ReiksBuch treffliche Bemerkungen
nur ertastet, um sie gleich wieder zu verhüllen. Der über das Schaffen des Dichters; besonders in dem
Fortsetzung des redaktionellen Tells auf Selle 6.
Ebert'sches
Knaben=Ferlenheim
Fe