VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 62

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kühne Bogen schwangen sich zur Zukunft. Einsätze und Wagnisse
waren da und Berechnungen haarscharf und von begeisternder Mäch¬
tigkeit Da wurde das ganze Getriebe einer schreibenden Welt höchst
ameisenhaft unbedeutend und seine auf das Bürgerliche gerichtete
Arbeitssehnsucht bekam Fügel.e Manches innige, ja weise Wort klingt
auf, und vielleicht ist diese lächelnde Behandlung eines an sich tra¬
gischen Stoffes auch nichts anderes als ein Stück Nachsicht, eine un¬
eingestandene Mahnung.an-kämpfende Seelen gerichtet, mit Güte, Liebe
und vertrauencer Geduld gefährliche Versuchungen zu überwinden.
DR. THEODOR REIK: ARTHUR SCHNITZLER ALS PTYCHO.
L.OGE. J. C. C. Bruns. Minden
Dieses Buch hat nicht die Absicht, die ästhetische Literatur über
den Wiener Dichter zu bereichern, es verfolgt vielmehr nur wissen¬
schaftliche Zwecke. Es verleugnet in keiner Zeile, welchen überragenden
Anteil die von Professor Freud begründeten psychoanalytischen
Lehren an seiner Entstehung und Entwicklung haben. Wie immer man
es seinem Werte nach beurteilen will, es muß von diesem Standpunkte
aus gewertet werden.
Die psychoanalytische Forschung kann über künstlerische Fragen
nur zum Teile tiefere Aufschlüsse geben; sie kann das psychische
Material und seine Verarbeitung zeigen und die seelischen Mechanismen
bloßlegen, welche in der Konzeption und im weiteren Verlaufe der
Arbeit wirksam waren. Andere Probleme, wie z. B. das der dichterischen
Begabung, entgehen ihr völlig.
Wollte ich mit einigen Worten ausführen, in welcher Art die
seclische Analyse in meiner Untersuchung gehandhabt wurde, so
müßte ich darauf verweisen, daß sie von der Grundansicht der
psychoanalytichen Forschung, nämlich von der durchgängigen und
ausnahmelosen Determiniertheit der seelischen Vorgänge ausgeht. Die
einzelnen Teile des Buches sind ähnlich aufgebaut. Sie ziehen
psychische Details, scheinbar unwesentliche Besonderheiten im Erleben
der Schnitzlerschen Personen heran und bemühen sich, von hier aus —
also von dem prefuser der Beobachtung — zu den kompliziertesten
und verborgensten Regungen vorzudringen. Die scelischen Wege der
männlichen und weiblichen Eifersucht werden verfolgt und in ihr
ein Projektionsphänomen verdrängter homosexueller Tendenzen dar¬
gestellt. Die Bedingung des obetrogenen Dritteng, welche ein auffallendes
Moment im Liebesleben der Schnitzlerischen Gestalten bezeichnet,
mußte im Verein mit anderen Zügen der Objektwahl dazu führen,
den verschiedenen Forinen des Inzestmotives von den ersten dichterischen
Versuchen, bis zu Schnitzlers letzter Novelle „Frau Beate und ihr Sohne
besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Eine gleich große — ja
vielleicht größere — Wichtigkeit kommt im seelischen Erleben der
uns liebgewordenen Gestalten dem nachwirkenden Einflusse des Vaters
zu, welcher fördernd oder hemmend in ihren Liebesabenteuern spürbar
wird und sich in manchen Details verrät. Das Verhältnis zwischen
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