VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1912–1914, Seite 63

2. Cuttings
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Brüdern (nicht auch zwischen Schwestern oder Geschwistern über¬
haupt? Die Red.) hat der psychoanalytischen Forschung das Geheimnis
der seelischen Motivierung seiner Zwiespältigkeit ausliefern müssen.
Eine genaue Analyse der vielen Träume, welche in Schnitzlers Werken
geschildert werden, ergibt eine reiche Ausbeute, welche wieder die
scelische Vollwertigkeit und den latenten Beziehungsreichtum dieser
interessantesten aller Vorgänge, an dessen Produktion das Unbewußste“
so hervorragenden Anteil hat, zeigt.
Von leicht übersehbaren und doch verräterischen Details in den
Motiven Schnitzlers geht meine Untersuchung aus und hält sich so
abseits von aller bisherigen Literaturbetrachtung, wie sie Literatur¬
historiker und Kritiker üben. In ihrem Zentrum stcht der unentbehrliche
Begrilf des Unbewußten, dessen dynamische Formulierung wir Professor
Freud verdanken. Auch das eigentlich Produktive des dichterischen
Schaftens bleibt im unbewußten Seelenleben. Wir sind in allen
unseren Handlungen und Gedanken wie von einem dichten Netze
umschlossen, das zu durchbrechen uns unmöglich ist; auch dem Dichter.
Ja er als dier Berufenste sollte eigentlich seinen Zeitgenossen
dies immer wieder zeigen, und vor ihrem Spiegelbilde, das er ihnen
vorhält, sollte, als Mahnung und Warnung zugleich, sein Wort in
ihnen lebendig werden:
„Und laß dir raten, habe
Die Sonne nirist zu lieb und nicht die Sterne.
Komm, folge #ur ins dunkle Reich hinable
Theotlor Reik
M
Der Weg der Hilde Wilden. Proze߬
eindrücke / von Stefan Großmann
Sie ist die Tochter eines Düsseldorfer Kaufmannes, der von den
einen als reicher, von den andern als verschuldeter Mann geschildert
wird. Es scheint im Vaterhaus jedenfalls nicht jene gesunde Stabilität
geherrscht zu haben, die auch den Kindern das Gefühl bürgerlicher
*) Der Fall der Brunhilde Wilden hat einige Wochen lang
die Presse und die Offentlichkeit in Atem gehalten. Der Freispruch
hat — das ist bemerkenswert — an kaum einer Stelle Widerspruch ge¬
funden: so klar hat diesmal das Gutachten der Arzte — wie auch der
Schießsachverständigen — die Unmöglichkeit einer „Verurteilunge er¬
wiesen.
Aus der Fülle der Urteile schien uns am bemerkenswertesten das des
Dichters Großmann, der selbst an Ort und Stelle seine Beobachtungen
machte und, fern jeder sensationellen Aufmachung, den Fall in der¬
„Vossischen Zeitungg am Vorabend des „Freispruchse am 20. Juni!
menschlich würdigt.
Aber ist nicht ein Mensch, der des Totschlags, gleichviel ob mit¬
Recht oder Unrecht, angeklagt war, allein schon entsetzlich bestraft?
Die Red.
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