VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1914–1920, Seite 10


Treumann als Oppenheimer bildeten nicht bloß die Abend-, —
sondern auch die Tagesunterhaltung der Wiener Gesellschaft die
sich im Cail=Theater ihr Stelldichein gab. Nicht mindere
Repertoire=,Schlager“ aber waren in der Nestroy=Scholz=Zeit des
Ml. Voze
——
Beimärz die zot guz und ger „unschnlogen“ Ginater
Nestroys; „Tratschmirl“ und „Herüber — Hinüber“ gewesen,
deren letzterer nun gleichfalls von der „Volksbühne“ in der
Neubaugasse hervorgeholt wird

sie füllten mit ihrer halb¬
stüneigen Wirksamkeit das alte „Leopoldstädter Theater“ wie die
ausgewachsensten Kasseustücke.
Daß nun gerade die „Volksbühne“ diesen bemerkenswertes
Wiederverwendungsversuch macht und direkteste Anknüpfung an dan
Wienertum, ja an das Altwienertum sogar, zu bewerkstelligen
trachtet, will mir stark symptomatisch erscheinen Und zwar keineswegs
überraschend etwa, sondern als etwas ganz natürlich Erklärbares
und aus dem klugen und richtigen Ermessen der Ergebnisse dieser
großen Zeit Herzuleitendes. Dieses Wien soll allmählich denn doch
zu dem, allzulange recht mangelhaft gewesenen, Volksbewußtsein
seiner Kraft, seines Inhalts und seiner Bedeutung gelangen —
es erkauft das Recht dazu seit anderthalb Jahren wahrhaftig mit
einem Opferaufwand sondergleichen. Das Wiener Volkstum begehrt.
seinen Geltungsplatz einzunehmen auf allen Gebieten des geistigen 3
und materiellen Wettbetriebes der Nationen — in dem Kampf
für die „Wiener Mode“ verlebendigt sich das wenigstens kräftig
genug — also auch auf dem Theater. Auf der Musikbühne ist das
zu guten Stücken wohl seit mehr als einem Vierteljahrhundert
schon erreicht worden, das Wiener Singspiel — was ja doch die
zulässige Verdeutschung von „Operette“ ist — hat die Herrschaft


in dem bezüglichen internationalen Repertoire errungen, es wurde
allüberall bis zum Weltkrieg hin gesungen und getanzt, wie es
Wie jener mythologische König, der sich in Menschenblut¬
ihnen von Wien aus vorgepfiffen wurde und das wird auch durch
bädern jung zu baden gedachte, taucht das Wiener Selbstbewußtsein
den Krieg kaum eine Unterbrechung in die Jahrzehnte hinein
aus den grausigen Blutbädern dieses ungeheuerlichen Krieges ge¬
erfahren. Auf der „Sprechbühne“ aber ist das Wiener
stärkt und verjüngt empor. Es lagert seinen ganzen Platz an der
Volkstum seit einem halben Jahrhundert nicht nur nicht in ge¬
Sonne — und auch am Rampenlichte des Theaters. Mit richtigem
steigertem Maße zu Wort gekommen, es hat in Wien selbst immer
Blick und kennzeichnendem Worte hat das der künstlerische Leiter
mehr an Raum eingebüßt, es ist auf den einstigen Stätten seines des Burgtheaters in seiner kürzlich schon besprochenen Absicht aus¬
Geltungsgebietes immer weiter zurückgedrängt worden, und wo sich
gedrückt, „der Saison eine Wiener Note geben zu wollen“ Mit
ihm eine neue Stätte aufzutun schien, da ist sie ihm oft genug
dem klassischen Edelbegriff des dichterischen Wienertums,
unter der Hand wieder entwunden, das gesprochene Wort von
mit Grillparzer, wird zunächst daran gegangen.
der Musik übertönt und erstickt worden.
Der angekündigte Grillparzer=Zyklus wird im Dezember
mit dem „dualistischen", „österreichisch=ungarischen“ Drama „Ein
Man sage nicht, daß der Sinn für das „Volksstück“ selbst treuer Diener seines Herrn“, in finniger Bezugnahme auf den
in seinen höchsten Aufstutungen bis zum Volkstrauerspiel hinauf Zeupunkt. begonnen Und Herr Thimig ist kein geborner, wenn
den Wienern abhandengekommen sei. In den letzten Tagen gerade auch ein durch und durch und mit allen Poren eingelebter Wiener
habe ich zufällig Gelegenheit gehabt, auf verschiedenen Bühnen Und der Direktor der Volksbühne, Dr. Rundt, ist ein Nord¬
zwei derartige Stücke zu sehen, die durch ihre vielmaligen Auf- deutscher, und auch er diagnostiziert mit kundigem Sinn die ge¬
führungen in Wien schon als „abgespielt" bezeichnet werden botene Richtlinie heraus, dem Repertoire einen „Wiener Ein¬
dürfen: das waien Schönherrs „Glaube und Heimat“ in
schlag“ zu geben, wie es einer „Volksbühne“, die ja doch vor
der markigen, frischlebigen Darstellung des Deutschen dem Wiener Volke aufgeschlagen ist, wohl passen mag. Und
Volkstheaters und Gerhart Hauptmannsgdarum soll mir denn dieser Altwiener=Abend in der Neubau=
„Rose Berndt“ mit dem erschütternden Spiel der Niese, die mit sgasse als symptomatisch für eine richtige Fühlung des Zeiterforder¬
dem elementaren Ausbruche des Seelenjammers, mit ihrem wilden
nisses erscheinen.
Naturschrei den einst so berühmt gewesenen „Wolter=Schrei“
das „hohe C“ des Trauerspiels, wie man diesen nannte —
an Echtheit und Wahrheit übertrifft. Die beiden „abgespielten“
Volksdramen in Wien, wie ich mit Genugtuung den ungeschwächten
Bann auf das Publikum, das sich in „Rose Berndt“ den
schlesischen Dialektanklang, in „Glaube und Heimat“ den Hervor¬
klang des Tirolischen wohlgefallen ließ. Und die neueste Lebens¬
beweiskraft des „Volksstückes“ auf einem Gehiete selbst, das ihm
durch seine Rangstellung entrückt zu sein scheint, Schönherrs
„Weibsteusel“ im Burgtheater, kleidet sich ins Bayerische.
Anzengruber selbst, dessen „G’wissenswurm“ soeben im
Burgtheater wieder vorgenommen wird trägt ja nicht die Wiener
Marke, die ven allen Stücken des Dichters nur „Das vierte
Gebot“ in scharfer Anschaulichkeit trägt. Mit einer förmlichen
Scheu wird dem Wienertum im Volsstück gerade ausgewichen,
ein völliges Vorurteil herrscht dagegen, Wien zum Schauplatz
und die Wiener Sprache zum Grundton solcher Stücke zu
machen — Direktoren und Theaterverleger begegnen solchen
Wiener Sachen mit einem unbehaglichen Mißtrauen und mit der
beliebten Schablonenformel: „Das geht „draußen“ nicht.“ Es
ist ein nicht genug hoch anzurechnendes Verdienst Hermann
Bahrs und Artur Schnitziers, daß sie sich mit manchem
Stück gegen dieses Vorürkeil, und zwar siegreich, gestellt haben.
Schnitzler zumal mit seinem populärst gebliebenen Bühnen¬
weik „Liebelei“ und mit dem weiter und höher ausgreifenden
Der junge Medardus“ womit er den von so wenigen unternommenen
Griff in die so gut wie noch uneröffnete dramatische Schatzkammer
der Geschichte Wiens getan hat, welche die „Volksdichter“ mit
den Stoffen aus den Maria=Theresia= und Kaiser=Josef=Zeiten für
erschöst zu halten pflegen.