VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1914–1920, Seite 19

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2. Cuttings
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Das Litterarische Fene, Bernn
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Arthur Schnitzler
und Siegmund Freuo

Von Josef Körner (z. Zt. Wien)
Dine künftige Kulturgeschichte unserer, jüngsten
Vergangenheit wird zu erörtern haben, wie
es kam, daß das letzte Jahrzehnt des verflosse¬
nen Jahrhunderts in Wien nahezu gleich¬
zeitig eine Sexualpoesie, eine Sexualphilosophie und
eine Sexualbiologie erstehen ließ. Der Dichter der
„Liebelei“, der gedankentiefe Verfasser von „Geschlecht
und Charakter“ die in Dichten und Denken das Ge¬
schlechtsleben in bisher unerhörter Weise ins Zentrum
der Menschlichkeit rückten, sahen ihr Streben von
einem Arzte begleitet, der ihre Weisheit zu exakter
Wissenschaft zu erheben sich anschickte. Aus einem mit
erstaunlicher Denkenergie betriebenen Studium der
Träume und der Störungen des Nervensystems zog
Siegmund Freud in vielbemerkten Schriften seine
weitgehenden Schlüsse auf das Seelenleben des Tages
und der Gesunden und erklärte die Menschenwelt als
Sexual=Wille und =Vorstellung. Mit seinen Theorien
und Hypothesen fand er freilich bei den Fachgenossen
wenig Beifall!), um so lauteren aber bei psycholo= hnit
als Schnitzlers Seelenkunde mit der jenes Meisters zu¬
gisch interessierten Außenstehenden, und in überraschend
sammentrifft, den der bewundernde Schüler den „Ge¬
kurzer Zeit besaß er eine weitverzweigte, über die
nialsten aller Psychologen“ nennt (S. 217), wird dem
ganze Erde verbreitete Schule. Es war von vornher¬
Dichter ein ähnlich superlativisches Lob erteilt; wo die
ein zu erwarten, daß sich vor allem erotisch gerichtete
Übereinstimmung fehlt, wird sie entweder durch ge¬
Dichter zu den phantasievollen Methoden und Ergeb¬
waltsame Interpretation erzwungens) oder es werden
nissen dieser neuen, Psychoanalyse benannten Wissen¬
die entgegenstehenden Eigentümlichkeiten von Schnitz¬
schaft bekennen würden?); hat doch auch der Traum¬
lers Schriften einfach verschwiegen. Wohl verwahrt
deuter des unsrer Gegenwart so verwandten roman¬
sich der Verfasser im Vorwort dagegen, daß man sein
tischen Zeitalters, G. H. Schubert, auf das Poeten¬
Buch als literaturkritische Untersuchung ansehe; er
geschlecht seiner Epoche — und kein geringerer als
verfolge nicht ästhetische, sondern „wissenschaftliche“
H. v. Kleist war darunter — die mächtigste Wirkung
Zwecke; er behandle Arthur Schnitzlers Gestalten als
ausgeübt.
Objekte psychologischer Analyse: „so, als wären sie
Arthur Schnitzler, selber Arzt und in jungen
wirklich lebende Menschen“. Das sind sie aber nun
Jahren noch schwankend, ob er seinen psychologischen
einmal nicht, und wer sich bei psychologischer Analyse
Interessen als Arzt oder als Dichter Genüge leisten
poetischer Figuren nicht streng innerhalb der vom
sollte, ist schon früh über den Weg gekommen, den
Dichter abgesteckten Grenzen bewegt, der gerät doch
später S. Freud bis ans Ende abschritt. Auch er hat
nur in ein Phantasieren über Phantasien. Dieser Ge¬
den Neurosen seine Aufmerksamkeit zugewendet und
fahr ist der Verfasser vielfach erlegen. Gewiß wird
ihnen mit Hypnose beizukommen getrachtets), eine
eindringliche Zergliederung der Schöpfungen eines
Methode, die nach eignem Geständnis auch Freud zu¬
Dichters manchen Einblick in die ihm selber unbewu߬
erst betrieb, bis er ihre Erfolglosigkeit einsah und
ten Tiefen seiner Seele gewähren; welchen Sinn und
es anders versuchte. Und die Grundsätze, zu denen
Zweck aber hat die Bemühung, in das Unbewußte
Freuds ernste Forschung schließlich gelangte: die Auf¬
seiner Gestalten einzudringen? Damit sind die
fassung der Träume als verkleideter Erfüllungsphan¬
Bahnen des Dichters verlassen, und wir haben es nicht
tasien unterdrückter Wünsche, die Erkenntnis der kom¬
mehr mit Arthur Schnitzler als Psychologen zu tun,
plizierten Ambivalenz von Liebe und Haß in allen
sondern — mit Theodor Reik als Psychologen; und
Gefühlszuständen, die Einsicht in den Panserualis¬
der macht den Dichter selbst zu seinem psychologischen
mus des Menschenlebens, hat Schnitzlers Dichtung
Objekt. Das aber geht, bei der bekannten Art der
aus eigener Kraft vorgeahnt und mehr oder minder
freudschen Methode und da der Dichter noch unter
deutlich ausgesprochen. Daß der Dichter von den
den Lebenden weilt, natürlich nicht ohne einige Takt¬
Leistungen des Stadt=, Zeit= und Weggenossen später¬
losigkeit ab. Das könnte man vielleicht verzeihen, wenn
hin gründliche Kenntnis nahm, wird man auch ohne
sie wirklichen Gewinn brächte. Allein das Gegenteil ist
direkte Belehrung als sicher annehmen dürfen und
der Fall. Indem der Verfasser mit Zuhilfenahme der
in einer seiner letzten Schöpfungen, der Novelle „Frau
freudschen Theorie von der infantilen Sexualität und
Beate und ihr Sohn“ die bewußte, absichtsvolle dich¬
jener berüchtigten Sexualsymbolik (die, solange es ver¬
terische Verwertung dieses Studiums erkennen.
ständige Menschen gibt, bloß belacht werden und die
Was lag näher, als den Dichter, der die Seele als
allgemeine Anerkennung der Psychoanalyse, die es sonst
ein weites Land ahnte, und den kühnen Forscher, der
sehr verdient, noch lange hindern wird) hinter das
tief in dieses grenzenlose Reich eindrang, nebenein¬
vom Dichter Zugestandene zu bringen sucht, entstellt er
ander zu halten, einen an dem andern zu messen. Ein
Wesen und Absicht mancher Dichtung in arger Weise.
junger Wiener aus Freuds Schule, Theodor Reik,
Da will er ###, nicht zufrieden mit der Wahrneh¬
dessen Namen durch ein eigenartiges Buch über Flau¬
mung eines an Fatalismus grenzenden Bekenntnisses
bert bekannt geworden ist, hat die vielversprechende