Eine künftige Kulturgeschichte unserer jüngsten
Vergangenheit wird zu erörtern haben, wie
Wes kam, daß das letzte Jahrzehnt des verflosse¬
nen Jahrhunderts in Wien nahezu gleich¬
zeitig eine Sexualpoesie, eine Sexualphilosophie und
eine Sexualbiologie erstehen ließ. Der Dichter der
„Liebelei“, der gedankentiefe Verfasser von „Geschlecht
und Charakter“, die in Dichten und Denken das Ge¬
schlechtsleben in bisher unerhörter Weise ins Zentrum
der Menschlichkeit rückten, sahen ihr Streben von
einem Arzte begleitet, der ihre Weisheit zu exakter
Wissenschaft zu erheben sich anschickte. Aus einem mit
erstaunlicher Denkenergie betriebenen Studium der
Träume und der Störungen des Nervensystems zog
Siegmund Freud in vielbemerkten Schriften seine
weitgehenden Schlüsse auf das Seelenleben des Tages
und der Gesunden und erklärte die Menschenwelt als
Sexual=Wille und =Vorstellung. Mit seinen Theorien
und Hypothesen fand er freilich bei den Fachgenossen
wenig Beifall!), um so lauteren aber bei psycholo= hnit
gisch interessierten Außenstehenden, und in überraschend
als Schnitzlers Seelenkunde mit der jenes Meisters zu¬
kurzer Zeit besaß er eine weitverzweigte, über die
sammentrifft, den der bewundernde Schüler den „Ge¬
ganze Erde verbreitete Schule. Es war von vornher¬
nialsten aller Psychologen“ nennt (S. 217), wird dem
ein zu erwarten, daß sich vor allem erotisch gerichtete
Dichter ein ähnlich superlativisches Lob erteilt; wo die
Dichter zu den phantasievollen Methoden und Ergeb¬
Übereinstimmung fehlt, wird sie entweder durch ge¬
nissen dieser neuen, Psychoanalyse benannten Wissen¬
waltsame Interpretation erzwungen) oder es werden
schaft bekei#en würden?); hat doch auch der Traum¬
die entgegenstehenden Eigentümlichkeiten von Schnitz¬
deuter des unsrer Gegenwart so verwandten roman¬
lers Schriften einfach verschwiegen. Wohl verwahrt
tischen Zeitalters, G. H. Schubert, auf das Poeten¬
sich der Verfasser im Vorwort dagegen, daß man sein
geschlecht seiner Epoche — und kein geringerer als
Buch als literaturkritische Untersuchung ansehe; er
H. v. Kleist war darunter — die mächtigste Wirkung
verfolge nicht ästhetische, sondern „wissenschaftliche“.
ausgeübt.
Zwecke; er behandle Arthur Schnitzlers Gestalten als
Arthur Schnitzler, selber Arzt und in jungen
Objekte psychologischer Analyse: „so, als wären sie
Jahren noch schwankend, ob er seinen psychologischen
wirklich lebende Menschen“. Das sind sie aber nun
Interessen als Arzt oder als Dichter Genüge leisten
einmal nicht, und wer sich bei psychologischer Analyse
sollte, ist schon früh über den Weg gekommen, den
poetischer Figuren nicht streng innerhalb der vom
später S. Freud bis ans Ende abschritt. Auch er hat
Dichter abgesteckten Grenzen bewegt, der gerät doch
den Neurosen seine Aufmerksamkeit zugewendet und
nur in ein Phantasieren über Phantasien. Dieser Ge¬
ihnen mit Hypnose beizukommen getrachtets), eine
fahr ist der Verfasser vielfach erlegen. Gewiß wird
Methode, die nach eignem Geständnis auch Freud zu¬
eindringliche Zergliederung der Schöpfungen eines
erst betrieb, bis er ihre Erfolglosigkeit einsah und
Dichters manchen Einblick in die ihm selber unbewu߬
es anders versuchte. Und die Grundsätze, zu denen
ten Tiefen seiner Seele gewähren; welchen Sinn und
Freuds ernste Forschung schließlich gelangte: die Auf¬
Zweck aber hat die Bemühung, in das Unbewußte
fassung der Träume als verkleideter Erfüllungsphan¬
seiner Gestalten einzudringen? Damit sind die
tasien unterdrückter Wünsche, die Erkenntnis der kom¬
Bahnen des Dichters verlassen, und wir haben es nicht
plizierten Ambivalenz von Liebe und Haß in allen
mehr mit Arthur Schnitzler als Psychologen zu tun,
Gefühlszuständen, die Einsicht in den Panserualis¬
sondern — mit Theodor Reik als Psychologen; und
mus des Menschenlebens, hat Schnitzlers Dichtung
der macht den Dichter selbst zu seinem psychologischen
aus eigener Kraft vorgeahnt und mehr oder minder
Objekt. Das aber geht, bei der bekannten Art der
deutlich ausgesprochen. Daß der Dichter von den
freudschen Methode und da der Dichter noch unter
Leistungen des Stadt=, Zeit= und Weggenossen später¬
den Lebenden weilt, natürlich nicht ohne einige Takt¬
hin gründliche Kenntnis nahm, wird man auch ohne
losigkeit ab. Das könnte man vielleicht verzeihen, wenn
direkte Belehrung als sicher annehmen dürfen und
sie wirklichen Gewinn brächte. Allein das Gegenteil ist
in einer seiner letzten Schöpfungen, der Novelle „Frau
der Fall. Indem der Verfasser mit Zuhilfenahme der
Beate und ihr Sohn“, die bewußte, absichtsvolle dich¬
freudschen Theorie von der infantilen Sexualität und
terische Verwertung dieses Studiums erkennen.
jener berüchtigten Sexualsymbolik (die, solange es ver¬
Was lag näher, als den Dichter, der die Seele als
ständige Menschen gibt, bloß belacht werden und die
ein weites Land ahnte, und den kühnen Forscher, der
allgemeine Anerkennung der Psychoanalyse, die es sonst
tief in dieses grenzenlose Reich eindrang, nebenein¬
sehr verdient, noch lange hindern wird) hinter das
ander zu halten, einen an dem andern zu messen. Ein
vom Dichter Zugestandene zu bringen sucht, entstellt er
junger Wiener aus Freuds Schule, Theodor Reik,
Wesen und Absicht mancher Dichtung in arger Weise.
dessen Namen durch ein eigenartiges Buch über Flau¬
Da will er ##, nicht zufrieden mit der Wahrneh¬
bert bekannt geworden ist, hat die vielversprechende
mung eines an Fatalismus grenzenden Bekenntnisses
Arbeit unternommen:); sie ist, das sei gleich gesagt,
zur Willensunfreiheit in Schnitzlers Werken, die unter¬
nur halb gelungen, weil dem auf die freudschen Dog¬
bewußte Quelle dieser Denkform auffinden und gerät
men eingeschworenen Verfasser die nötige geistige Un¬
hierbei nur in das unglaublichste Mißverstehen der
abhängigkeit gefehlt hat.
„Dreifachen Warnung“ einer kurzen Prosaskizze, wel¬
Nicht von höherer Warte herab betrachtet Reik die
che die reinste Ausprägung von Schnitzlers tatscheuem
beiden Psychologen, sondern studiert ausschließlich das
Determinismus darstellt. Wo sich aber Reik von den
Bild, das der Hohlspiegel der Psychoanalyse von dem
Schrullen und Übertreibungen der freudschen Schule
Dichter und seinn Gestalten zurückwirft. In dem Maße,
frei zu halten weiß, da öffnen sich einem Tiefblick wirk¬
lich alle Tore der Erkenntnis. Als heuristisches Prin¬
Forschung“ als Charakter seiner Arbeiten hervorhebt. (Drei Ab¬
zip, zum mindesten bei erotischen Dichtern angewendet,
handlungen zur Sexualtheorie. 3. Aufl. 1915. S. v.
*) In enthusiastischer Weise hat dies z. B. Frederik van Geden
bewährt sich die Psychoanalyse vortrefflich. Die ver¬
in der „Frankf. Ztg.“ vom 29. Mai 1914, 1. Morgenblatt, getan.
borgensten Zusammenhänge, die überraschendsten Ahn¬
) „Über funktionelle Aphonie und deren Behand¬
lichkeiten weiß unser Verfasser zwischen den verschiede¬
lung durch Hypnose und Suggestion.“ Sonder=Abdruck aus
der „Internationalen Klinischen Rundschau“. Wien 1889.
) „Arthur Schnitzler als Psycholog.“ Minden 1914,
)Das geht bis zur Verfälschung inhaltlicher Tatsachen: so ist
J. C. C. Bruns. 303 S. — Infolge des Krieges, der mich mehr
Ferdinand keineswegs ein flüchtiger Bekannter von Gabriel (S. 99),
als zwei Jahre lang meiner bürgerlichen Beschäftigung völlig ent¬
vielmehr repräsentieren die beiden das Schnitzler so eigentümliche
zog, komme ich erst mit so arger Verspätung dazu, über dieses Buch
Freundespaar („Der tote Gabriel"); hingegen ist Natter (S. 269)
zu berichten.
nichts weniger als ein „Freund“ Hofreiters („Das weite Land“).
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Vergangenheit wird zu erörtern haben, wie
Wes kam, daß das letzte Jahrzehnt des verflosse¬
nen Jahrhunderts in Wien nahezu gleich¬
zeitig eine Sexualpoesie, eine Sexualphilosophie und
eine Sexualbiologie erstehen ließ. Der Dichter der
„Liebelei“, der gedankentiefe Verfasser von „Geschlecht
und Charakter“, die in Dichten und Denken das Ge¬
schlechtsleben in bisher unerhörter Weise ins Zentrum
der Menschlichkeit rückten, sahen ihr Streben von
einem Arzte begleitet, der ihre Weisheit zu exakter
Wissenschaft zu erheben sich anschickte. Aus einem mit
erstaunlicher Denkenergie betriebenen Studium der
Träume und der Störungen des Nervensystems zog
Siegmund Freud in vielbemerkten Schriften seine
weitgehenden Schlüsse auf das Seelenleben des Tages
und der Gesunden und erklärte die Menschenwelt als
Sexual=Wille und =Vorstellung. Mit seinen Theorien
und Hypothesen fand er freilich bei den Fachgenossen
wenig Beifall!), um so lauteren aber bei psycholo= hnit
gisch interessierten Außenstehenden, und in überraschend
als Schnitzlers Seelenkunde mit der jenes Meisters zu¬
kurzer Zeit besaß er eine weitverzweigte, über die
sammentrifft, den der bewundernde Schüler den „Ge¬
ganze Erde verbreitete Schule. Es war von vornher¬
nialsten aller Psychologen“ nennt (S. 217), wird dem
ein zu erwarten, daß sich vor allem erotisch gerichtete
Dichter ein ähnlich superlativisches Lob erteilt; wo die
Dichter zu den phantasievollen Methoden und Ergeb¬
Übereinstimmung fehlt, wird sie entweder durch ge¬
nissen dieser neuen, Psychoanalyse benannten Wissen¬
waltsame Interpretation erzwungen) oder es werden
schaft bekei#en würden?); hat doch auch der Traum¬
die entgegenstehenden Eigentümlichkeiten von Schnitz¬
deuter des unsrer Gegenwart so verwandten roman¬
lers Schriften einfach verschwiegen. Wohl verwahrt
tischen Zeitalters, G. H. Schubert, auf das Poeten¬
sich der Verfasser im Vorwort dagegen, daß man sein
geschlecht seiner Epoche — und kein geringerer als
Buch als literaturkritische Untersuchung ansehe; er
H. v. Kleist war darunter — die mächtigste Wirkung
verfolge nicht ästhetische, sondern „wissenschaftliche“.
ausgeübt.
Zwecke; er behandle Arthur Schnitzlers Gestalten als
Arthur Schnitzler, selber Arzt und in jungen
Objekte psychologischer Analyse: „so, als wären sie
Jahren noch schwankend, ob er seinen psychologischen
wirklich lebende Menschen“. Das sind sie aber nun
Interessen als Arzt oder als Dichter Genüge leisten
einmal nicht, und wer sich bei psychologischer Analyse
sollte, ist schon früh über den Weg gekommen, den
poetischer Figuren nicht streng innerhalb der vom
später S. Freud bis ans Ende abschritt. Auch er hat
Dichter abgesteckten Grenzen bewegt, der gerät doch
den Neurosen seine Aufmerksamkeit zugewendet und
nur in ein Phantasieren über Phantasien. Dieser Ge¬
ihnen mit Hypnose beizukommen getrachtets), eine
fahr ist der Verfasser vielfach erlegen. Gewiß wird
Methode, die nach eignem Geständnis auch Freud zu¬
eindringliche Zergliederung der Schöpfungen eines
erst betrieb, bis er ihre Erfolglosigkeit einsah und
Dichters manchen Einblick in die ihm selber unbewu߬
es anders versuchte. Und die Grundsätze, zu denen
ten Tiefen seiner Seele gewähren; welchen Sinn und
Freuds ernste Forschung schließlich gelangte: die Auf¬
Zweck aber hat die Bemühung, in das Unbewußte
fassung der Träume als verkleideter Erfüllungsphan¬
seiner Gestalten einzudringen? Damit sind die
tasien unterdrückter Wünsche, die Erkenntnis der kom¬
Bahnen des Dichters verlassen, und wir haben es nicht
plizierten Ambivalenz von Liebe und Haß in allen
mehr mit Arthur Schnitzler als Psychologen zu tun,
Gefühlszuständen, die Einsicht in den Panserualis¬
sondern — mit Theodor Reik als Psychologen; und
mus des Menschenlebens, hat Schnitzlers Dichtung
der macht den Dichter selbst zu seinem psychologischen
aus eigener Kraft vorgeahnt und mehr oder minder
Objekt. Das aber geht, bei der bekannten Art der
deutlich ausgesprochen. Daß der Dichter von den
freudschen Methode und da der Dichter noch unter
Leistungen des Stadt=, Zeit= und Weggenossen später¬
den Lebenden weilt, natürlich nicht ohne einige Takt¬
hin gründliche Kenntnis nahm, wird man auch ohne
losigkeit ab. Das könnte man vielleicht verzeihen, wenn
direkte Belehrung als sicher annehmen dürfen und
sie wirklichen Gewinn brächte. Allein das Gegenteil ist
in einer seiner letzten Schöpfungen, der Novelle „Frau
der Fall. Indem der Verfasser mit Zuhilfenahme der
Beate und ihr Sohn“, die bewußte, absichtsvolle dich¬
freudschen Theorie von der infantilen Sexualität und
terische Verwertung dieses Studiums erkennen.
jener berüchtigten Sexualsymbolik (die, solange es ver¬
Was lag näher, als den Dichter, der die Seele als
ständige Menschen gibt, bloß belacht werden und die
ein weites Land ahnte, und den kühnen Forscher, der
allgemeine Anerkennung der Psychoanalyse, die es sonst
tief in dieses grenzenlose Reich eindrang, nebenein¬
sehr verdient, noch lange hindern wird) hinter das
ander zu halten, einen an dem andern zu messen. Ein
vom Dichter Zugestandene zu bringen sucht, entstellt er
junger Wiener aus Freuds Schule, Theodor Reik,
Wesen und Absicht mancher Dichtung in arger Weise.
dessen Namen durch ein eigenartiges Buch über Flau¬
Da will er ##, nicht zufrieden mit der Wahrneh¬
bert bekannt geworden ist, hat die vielversprechende
mung eines an Fatalismus grenzenden Bekenntnisses
Arbeit unternommen:); sie ist, das sei gleich gesagt,
zur Willensunfreiheit in Schnitzlers Werken, die unter¬
nur halb gelungen, weil dem auf die freudschen Dog¬
bewußte Quelle dieser Denkform auffinden und gerät
men eingeschworenen Verfasser die nötige geistige Un¬
hierbei nur in das unglaublichste Mißverstehen der
abhängigkeit gefehlt hat.
„Dreifachen Warnung“ einer kurzen Prosaskizze, wel¬
Nicht von höherer Warte herab betrachtet Reik die
che die reinste Ausprägung von Schnitzlers tatscheuem
beiden Psychologen, sondern studiert ausschließlich das
Determinismus darstellt. Wo sich aber Reik von den
Bild, das der Hohlspiegel der Psychoanalyse von dem
Schrullen und Übertreibungen der freudschen Schule
Dichter und seinn Gestalten zurückwirft. In dem Maße,
frei zu halten weiß, da öffnen sich einem Tiefblick wirk¬
lich alle Tore der Erkenntnis. Als heuristisches Prin¬
Forschung“ als Charakter seiner Arbeiten hervorhebt. (Drei Ab¬
zip, zum mindesten bei erotischen Dichtern angewendet,
handlungen zur Sexualtheorie. 3. Aufl. 1915. S. v.
*) In enthusiastischer Weise hat dies z. B. Frederik van Geden
bewährt sich die Psychoanalyse vortrefflich. Die ver¬
in der „Frankf. Ztg.“ vom 29. Mai 1914, 1. Morgenblatt, getan.
borgensten Zusammenhänge, die überraschendsten Ahn¬
) „Über funktionelle Aphonie und deren Behand¬
lichkeiten weiß unser Verfasser zwischen den verschiede¬
lung durch Hypnose und Suggestion.“ Sonder=Abdruck aus
der „Internationalen Klinischen Rundschau“. Wien 1889.
) „Arthur Schnitzler als Psycholog.“ Minden 1914,
)Das geht bis zur Verfälschung inhaltlicher Tatsachen: so ist
J. C. C. Bruns. 303 S. — Infolge des Krieges, der mich mehr
Ferdinand keineswegs ein flüchtiger Bekannter von Gabriel (S. 99),
als zwei Jahre lang meiner bürgerlichen Beschäftigung völlig ent¬
vielmehr repräsentieren die beiden das Schnitzler so eigentümliche
zog, komme ich erst mit so arger Verspätung dazu, über dieses Buch
Freundespaar („Der tote Gabriel"); hingegen ist Natter (S. 269)
zu berichten.
nichts weniger als ein „Freund“ Hofreiters („Das weite Land“).
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