VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1925–1929, Seite 56

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2. Cuttings
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künstlerisch erfüllen können. Früher gab es das: schaffener Kunst auszusagen. Raimunds Zauberpossen
Fontane für den Norden und Raimund für den Süden etwa sind heute nicht minder Quellen und Vorbilder
sind Beispiele dafür. Und Gerhart Hauptmann selbst als irgendein aus dem Volke entsprungenes, anonymes
Weihnachts= oder Legendenspiel.
beweist ganz ebenso wie Thomas Mann und mancher
Von dem Raimundschen Wien, von dem Bruckner¬
andre, daß die Großstädte in Zeiten, da ihre eigenen
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schen Oberösterreich, von einem fabelreichen Volke das
Kräfte versiegen, sich aus der Provinz frische Kräfte
tiefer schafft und denkt, als wir ahnen, hat sich die Pro¬
u Besuch, man und Säfte holen müssen.
duktion dieser Tage vollkommen entfernt. Sie ist geistig
erzlichkeit, die
Wollte man bei dem Bankett des P. E. N.=Klubs
auf einer Ebene, die zu hoch ist, als daß sich auf ihr
n schleppte ihn
Gerhart Hauptmann einen Dichter zeigen, von dem
Typen eines Stammes bewegen könnten. Und da man
nd auch der
man sagen durfte: „Dieser Mann ist kennzeichnend für
vor die Augen Gerhart Hauptmanns österreichische
Kitglieder und österreichische Art und österreichisches Schaffen, er ver¬
Dichter stellen will, findet man nur zwei: Richard
in ihr Mitte möchte nirgends anderswo als hier zu gedeihen und
Billinger, den Bauern aus Oberösterreich, und Heinz
Prog#nenten Früchte zu tragen“ — wen konnte man ihm vor¬
Ortner, den Krämersohn aus der niederösterreichischen
#e wirklich nicht stellen? Artur Schnitzler, der letzte Große, der Wien
Provinz. Ihnen gesellt sich, als der Höchste, als der
berk, erbrachte, vollkommen zugehört, war nicht zugegen. Und der
Reinste als der Stärkste, einer, der nicht zugegen ist:
Magyarentum,
wahre Oesterreicher unter den Dichtern der letzten
Max Mell, der Steirer.
lich hier deutsche
Generation, Hugo von Hofmannsthal, ist tot. Als
Diese drei, so scheint es, verwalten das Erbe, das
henten spiegelt.
man in Deutschland so sehr über sein Sterben trauerte,
Hofmannsthal sterbend hinterließ. Sie verwalten es in
mblickte, wurde
ahnte man wohl gar nicht, welch einem Oesterreicher
einem treuen und engen Sinne, der keine Konzessionen
jenigen heraus¬
diese Trauer galt. Aber in seiner engeren Heimt kann
kennt, und das ist gut. Bei Hofmannsthal selbst konnte
sind, so wie
man ermessen, wie tief heimatbedingt, wie ganz aus
man beobachten, daß seine Kreise immer kleiner wurden,
es gemeinsam
alter, fruchtbarer Tradition geschöpft der „Rosen¬
daß er aus der Weite, der er einmal gleichfalls an¬
kan prüfte und
kavalier" und „Jedermann“ waren. Mozart mußte
gehört, immer mehr zurückkehrte in eine Heimat, die in
icht groß.
gelebt, Raimund mußte sich aus qualvoller Melancholie
sich selbst beruhte. Es ist in diesem Sinne nicht gleich¬
hriftsteller ver¬
in die Heiterkeit seines Theaters geflüchtet haben,
gültig, daß ihm während der letzten Jahre seines
schlechthin mit damit der Urenkel diese Werke schreiben konnte. Was
Lebens wichtiger und wesentlicher als alle Theater der
nsoweng Recht dieses Stammesösterreichische sei, ist schwer zu de¬
Welt die Salzburger Festspiele waren. Und es ist eben¬
kpräsentativ für finieren. Jeder hat es an Mozart gefühlt, keiner sowenig belanglos, daß Max Mell und Richard
t dies gefühlt: hat es mit voller Klarheit aussprechen können. Mit Billinger, nachdem Eingeweihte sie schon gekunnt, durch
jas Deutschland dem Worte Anmut ist ihm nicht beizukommen, denn
diese Festspiele zum erstenmal der Gesamtheit des
Volkes gezeigt wurden. Ortner seinerseits durfte von
daß es nicht Stifter und Grillparzer waren kaum anmutig im
Sinne der literarhistorischen Schablone. Eines gehört der österreichischesten Bühne, vom Burgtheater, zu einem
nn, weil es sich,
ungsprozeß ein=jedenfalls dazu: daß man aus dem Volkstum schöpft, Publikum sprechen, das er sich erst in dem Augenblick
gewann, als er sich ganz auf seine Heimat besann.
hnlichen, ja fast das künstlerisch nirgends reicher ist als auf bajuvari¬
In diesen dreien begann ein Quell wieder zu
Ganzen macht. schem Boden. Bei aller Höhe der Kunst: die Musik
das, daß kein des österreichischen Volkes klingt in das Mozartsche springen, der lange verschüttet gelegen war. Sie er¬
otwendig aus Rokoko hinein. Und bei Schubert und Bruckner wird kannten, daß es kein Zufall sein könnte, wenn den
Wien stammen immer wieder der österreichische Landler lebendig. In stärksten Volksdramatiker, Raimund und die schönsten
nig Schaffende, die Tradition dieses Volkstums sind die Werke dieser Volksspiele, die Oberammergauer Passion, der deutsche
Heimat wurde, Großen selbst übergegangen als unlösbare Bestand= Süden hervorgebracht hätte. Sie wurden sich bewußt,
allein sie sich teile, und nichts Schöneres wäre von bewußt ge= wie sehr gerade hier der Alltag von Zauber und
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