VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1928–1931, Seite 2

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auch der Fremdling das Café.
schrieb, von Buchenwipfeln umrauscht:
4.
sagung“ und des „Schicksals des Freiherrn
„Schmetterlinge setzen sich auf meine Schul¬
von Leisenbogh“ und in der Vorstadttragik des
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tern; rings ertönen Vogelstimmen und dabei
„Neuen Liedes“. Sie bestimmt das Ende des
blickt mein Auge übers Papier weg auf die
„Mörders“: „Und als er auf dem Boden lag
Die Seele Oesterreichs.
glitzernde Mur und ihre Augen. Meine Seele
und etwas Dunkles über ihn sich beugte, ihn
k
Von Paul Wiegler.
ist so still, so ruhig, jede Bangigkeit, jede Be¬
umschloß, ihn nicht mehr lassen wollte, für sie,
d
sorgnis ist verschwunden, und eine selige Er¬
zu ihr ins Nichts entschwand, nach dem er sich !9
Die in Wien erscheinende ausgezeich¬
habenheit, die mich auf hehren Schwingen über
nete Zeitschrift „Roman=Rundschau, zu
lange gesehnt hatte.“ Rätsel der Seele ist, mit 2
die Erde und ihre Geschicke hinaus trägt, hat
deren Mitarbeitern unter anderen
einer leisen Ironie, das visionäre Erschauern
Upton Sinclair, Jack London, Wasser¬
mich überkommen.“ Österreichisch war die
im „Tagebuch der Redegonda“. „Frau Beate1!
mann, Wells gehören, bringt in aller¬
Naturnähe Franz Stelzhamers, des Dichters
und ihr Sohn“: „Wirrheit eines Tages, der
nächster Zeit ein Schnitzler=Heft heraus.
aus Weinbeiseln Oberösterreichs, und Anzen¬
voll Rätsel war, und verführerisches Vor¬
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In ihm wird auch dieser wertvolle Auf¬
grubers. Der österreichische Hofrat Adalbert
gefühl der ewigen Nacht.“ „Verstehend, ver¬
satz erscheinen:
Stifter ist der Verfasser des „Nachsommers“,
zeihend, erlöst schloß er die Augen; die ihren
Bilder steigen auf, ein Reich, das war:
des friedvoll=großen Romans aus dem Rosen¬
aber faßten noch einmal die in drohendem
mährische Bauern und Bäuerinnen mit bestick¬
haus, in dem viele Seiten sind mit Sätzen wie
Dämmer aufsteigenden grauen Ufer, und ehe
ten Tuchern und Jacken, die von der Mutter¬
diesen: „Die Sonne stand an dem wolkenlosen die lauen Wellen sich zwischen die Lider dräng=d
gottes in Mariazell lachend wieder in die
Himmel, aber schon tief gegen Süden, gleich¬
ten, traf ihr sterbender Blick die letzten Schat¬
Heimat fuhren, Chausseen, Wälder, Wiesen sam als wollte sie für dieses Jahr Abschied
ten der verlöschenden Welt.“ „Dr. Gräsler,7
mit Sauerampfer, Dorfstraßen, Kreuze, Wein= nehmen. Die letzte Kraft ihrer Strahlen
Badearzt“: Ungefähr des Schicksals, mit
gärten, der rußverzehrte Himmel von glänzte noch um manches Gestein und um die
Schwermut empfunden, Passivität des Her¬
Mährisch=Ostrau und Witkowitz, der rotgelbe
bunten Farben des Gestrüpps an den Gestei¬
zens, Bitterkeit. „Fräulein Else“: eine Aga¬
Naphthaschein von Trzebinja, die Morgen=nen. Die Felder waren abgeerntet und unge¬
nie, ein Mädchenschrei, doch die Wälder sin¬
dämmerung im dampfenden Flußtal der pflügt, sie lagen kahl den Hügeln und Hängen
gen um sie, die Berge, die Sterne. „Traum¬K
Waag, die Kathedrale von Gran, die Tier= entlang, nur die grünen Inseln der Winter¬
novelle": Masken, Enthüllung im Traum,
börse im Pester Rathaus, wo ein Christo¬
saaten leuchteten hervor.“
Schlaf und Vergessen, ohne Grenzen zerrin¬
phorus mit bartlosem Niobidenantlitz den
nend Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Ein
Herrn der Welt trägt, Zigeunerbuben, die
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Fatum überfällt die Offiziersexistenz des
In dieser österreichischen Literatur des
nachts auf der Andrassystraße um Geld sich
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„Spiels im Morgengrauen“, wie, spöttisch ab¬
Traumes, der Melancholie und der Zartheit,
rauften, die Ziehbrunnen, die Pferdeweiden.
des Moll, das sich von dem fordernden Dur gebogen, das im „Leutnant Gustl“ war. Diese
der ungarischen Ebene, die flatternden Nebel
verfeinerte, immer wieder nuancierte Prosa,
des Nordens unterscheidet, schreibt 1894 ein
im Karstgeröll und der erste Schimmer dei
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Wiener Autor den Beginn einer Novelle nie=sie ist Kulturerbe, ist deutsche Gegenwart und
sonnenbeglänzten Küste, der Glockensturm der
der: „Die Dämmerung nahte schon, und Ma= österreichische Vergangenheit.
Sankt Veits=Prozession im engsten Fiume, wo
genggeegegerrengge
sie ihre grellen Teppiche über die Balkone
legten, die silbrigen Furchen auf dem Schnee¬
gipfel der Raxalpe, die lyrisch sauften Kontu¬
ren der Hügel um Neustift und Pötzleinsdorf,
e
der bucklige Geiger in Sievering, der unter
Die Dragödle
englischen
dem blaugrünen Schwindschen Tor seine Länd¬
ler spielte
Bilder steigen auf — und verblassen.
Materin.
In diesem Reiche der vielen Völker hatten
die deutschen Länder stets mit dem anderen
Prozeß gegen Francois Pinet.
Deutschland tiefste Gemeinschaft. Der Tauge¬
Das Drama der „Ciscaille“ hat seinen Ab-schieden, nach einer kurzen und unglücklichen!
nichts Eichendorffs stand auf hohem Berg, an
schluß gefunden. François Pinet, der sechs¬ Ehe mit einem Kolonialoffizier, hatte die letzten
der blitzenden Donau und schwenkte den Hut
Jahre auf Reisen verbracht und gedachte nun,
und rief ein „Vivat Österreich“ in das mit
undzwanzigjährige Pächter des Hotels „Monte
sich in einer gesunden, landschaftlich schönen#
Oboe, Klarinette und Waldhorn die drei
Carlo“, wurde von den Geschworenen des Ge¬
im
Gegend niederzulassen. Erst wohnte sie
Prager Studenten einfielen. Mörikes Mozart
richtes Aix freigesprochen. Das Verdikt wurde
Hotel. Da sie aber wegen ihrer sechs Schäfer¬
war unterwegs nach Prag, und im Tannen¬
mit Händeklatschen und Bravorufen aufge¬
hunde, die sie mit sich führte, immer wieder
dunkel bei Schrems, wo er einen Pilz brach
nommen. Die Gefahr eines Justizirrtums ist
auf Schwierigkeiten stieß, beschloß sie, ein
und Tannenzapfen zu sich steckte, schwatzten er
vermieden worden. Was zurückbleibt ist das
kleines Gut zu kaufen. Die „Ciscaille“, die
und Konstanze von den Karossen, Staats¬
Rätsel eines völlig unaufgeklärten Todes, das
ihr angetragen wurde, zwei Kilometer von
degen, Roben und Fächern, der Musik von
die dreitägige Verhandlung auch nicht an¬
Beaux entfernt, umfaßte einen riesigen Garten
Wien, von den Kellnern, Saucen und Back¬
nähernd zu lösen verstand.
ein zweistöckiges Haus, das ehemals als Hotel
hendeln im Prater. Die Literatur hieß Eichen¬
Vor anderthalb Jahren kam Olive Bran¬
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Monte Carlo in Betrieb gewesen war, und
dorff, der ganz in Sehnsucht „verwienert“
son, eine englische Landschaftsmalerin von Ruf,
nach Beaux am Mittelmeer, um Erholung zu mehrere hundert Meter vom Hotel entfernt ein
war, Friedrich Schlegel, Zacharias Werner
suchen. Die Fünfundvierzigjährige war ge= einstöckiges Gebäude, in dem der Pächter ge¬
und hieß Grillparzer; die Musik Ludwig van
Beethovens aus Bonn und Franz Schuberts
aus Lichtental. Es gab nichts Trennendes in
dieser Flut und Ruckflut der Geister und der
Seelen.

Aber es gab, wie es ein fränkisches oder
RRA
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schwäbisches Deutschland gab, die österreichi¬
schen Besonderheiten. Um Mozarts Oper war
VOR BEGINN
Salzburg, war Schloß Mirabell mit Göttern
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und Götinnen, der Domplatz, das Seepferd¬
ER NEUEN
Quartett des Hofbrunnens, das unter dem
Felsenriff der heidnischen Atlanten sich
SADON
bäumte, der Hauch des Südens über die

Alpen her. Grillparzer, das war das Wiener
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2.
Vollsschauspiel des Barock, zu dem er sich be¬
%
kannt hat, als er sagte: „Meinen Stucken
merkt man an, daß ich in der Kind¬

heit mich an den Geister= und Feen¬
märchen des Leopoldstädter Theaters ergötzt
habe.“ Das war die naive Phantasmagorie
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HEN

„Der Traum ein Leben“, das Krescendo von
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Harfenklang, Hörnerschall und Waffengeklirr
mit wallenden Schleiern und spukhaften
Flämmchen, mit der Fieberangst Rustans des
Fägers, in die dann auf einmal die drei
FErt

Schläge der Uhr ertönten. Der Zauber, der
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A.
„nur eines Wortes bedarf, um dieses Traum¬
MARIAHILFERSTRASSE NR. 39
kpiel zu lösen in sein eigentliches Nichts“.!