VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1928–1931, Seite 36


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1931. Literaturblatt für germanische und romanische Philologie. Nr. 1—2.
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sehr gross war), sondern auch sein Werk gelitten, dem fraglos
Sorgfalt, mit weitestgehender Belesenheit, mit gründ¬
bessere Aufnahme den nötigen Schwung zum höchsten Be¬
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lichster Gelehrsamkeit wird alles beigebracht, was zum
mühen und Gelingen verliehen hätte. „Ich wäre dorthin vor¬
Verständnis von Lessings Ausführungen, bis hinein in die
gedrungen“, so lässt er selbstbekennerisch seinen „Jubilar“
(„Stromabwärts“ S. 96) sprechen; „ich weiss es heute, wo ich
leisesten Anspielungen, notwendig ist. Aber nicht nur das.
mich nicht mehr über mich selber täusche ... Der Zuruf aber
Die von Lessing behandelten Fragen werden nicht nur
blieb aus. Er klang wohl. Nun dem, nun jenem. Mir niemals
durch ihre Vorgeschichte beleuchtet, sondern auch über
seit meinen Anfärgen. Und man sieht, wie einem immer
Lessing hinaus weitergeführt; ich verweise z. B. auf die
wieder einer vorkommt, und manchmal weiss man warum, aber
in den meisten Fällen begreift man nicht einmal, wiese das
Darlegungen über die Märtyrerdramen und die Katharsis.
möglich war.“
Man wird wenig Anlass haben, gegen die Anmerkungen
Die Berechtigung dieses bittern Worts, das Unrecht aller
Ausstellungen zu erheben. Aber eins muss ich zur Sprache
bisherigen Beurteilung Davids zu erweisen, einen verkannten
bringen. Ich war gespannt, wie sich die Anmerkungen
Literaturschatz der Vergessenheit zu entreissen, macht sich
die hier anzuzeigende Schrift ausdrücklich zur Aufgabe. Wir
mit der bekannten Steigerung über die Gesten in der Dramna¬
fragen: Tut sie recht daran, und wie wird sie dieser selbstge¬
turgie (5, 40: „bedeutende, malerische, pantomimische“)
stellten Aufgabe gerecht?
auseinandersetzen würden. Sie schreiben S. 183: „pan¬
Das Vierteljahrhundert, das seit Davids Tode dahingegangen
tomimisch waren die Bewegungen, die an Stelle des ge¬
ist, schafft gute Distanz. Wie vieles, was damals gelobt und ge¬
lesen wurde, liegt heute bereits unter dicker Staubschicht be¬
sprochenen Wortes treten.“ Aber Lessing spricht ganz
graben. Davids seinerzeit wenig beachtete Erzählungen sind
deutlich von Bewegungen, welche die Hand bei mora¬
zum grösseren Teile noch frisch geblieben. Freilich nicht seine
lischen Stellen macht; „oft kann man bis ins Malerische
historischen Novellen; die waren (besonders der Band „Wieder¬
damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet“
geborene“) schon an ihrem Geburtstage nur mässiges Kunst¬
handwerk, in Technik, Motivik, Stilistik von Vorbildern bis zur
Man soll also das Pantomimische beim Sprechen ver¬
Sklaverei abhängig; die beste, „Fortunats Tochter“, eine reine
meiden. Was ein symbolischer Schluss sei (27, 7), hätte
(und schwache) Parodie C. F. Meyers; eine andere, „Der Letzte“,
erklärt werden dürfen, ebenso zur Nennung von Hogarth
mit ihrem schmunzelnden Humor handfester Diesseitsfrömmig¬
dessen Schrift Analysis of beauty genannt werden können,
keit, nicht zu denken ohne Kellers „Sieben Legenden“. Was
aber in des Dichters Gegenwart spielt, aus den eigenen Er¬
die Lessings Freund Mylius 1754 übersetzt hat. Dass
schaunissen, Erlebnissen, Erleidnissen im mährischen Heimat¬
Lessings Schilderung über das Auftreten der Liebe in Romeo
land und in der Kaiserstadt gespeist wird, blieb frisch, ja mutet
und Julia zu Shakespeare nicht stimmt, hat lange vor Wetz
heute fast zeitgemässer an als in den Erscheinungsjahren; was
schon Eduard von Hartmann ausführlich gezeigt. Per com¬
damals mitunter ein bisschen altfränkisch erschien, weil es
hinter der augenblicklichen Tagesmode in etwa zurückstand,
binazione d’accidenti würde ich nicht übersetzen: „durch
ist wieder gültig geworden: der keiner Uebertreibung holde,
Fügung der Umstände“, sondern: „durch das Zusammen¬
gemässigte Verismus, die ungetiftelte Psychologie, die senti¬
treffen von Umständen“. Nun fehlt noch der Registerband.
mentalitätsfreie Sachlichkeit im Sozialen und Erotischen, das
starke tendenzlose Ethos. Hinzu treten ungewöhnlich hohe
O. Behaghel.
Giessen.
sprachliche Werte. Wie wenigen der um 1900 berühmten Autoren
und Bücher wird man heute noch solches Zeugnis aussteilen
Herman Groeneweg, J. J. David in seinem Verhältnis zur
durien!
Heimat. Geschichte, Gesellschaft und Literatur. 1 Deutsche
Aber Vollendung, auch im bescheideneren Sinne des
Quellen und Studien. Hrsg. von Wilhelm Kosch. 4. Heft.)
Wortes, kommt Davids Hinterlassenschaft doch nirgends zu.
Graz 1929, Wächter-Verlag. 227 S. Gr.-80.
Von seinen Hauptwerken, den beiden Wiener Romanen, ist der
Dem guten Lande Mähren haben in der zweiten Hälfte des
eine — „Am Wege sterben“ — bei aller Kraft der Menschen¬
19. Jahrh. drei bedeutende Schriftsteller liebevollste Anteil¬
gestaltung zu lässig, zu kunstlos komponiert, bei aller Tiefe der
nahme gewidmet: Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand
Sozialkritik zu sehr mit dem bitterbösen Augen des Mal¬
von Saar, Jakob Julius David. Sie alle bemühen sich um Dorf
kontenten geschaut; der andere — „Der Uebergang“ —, dessen
und Kleinstadt, schildern die Dreifalt deutscher, tschechischer,
dunkle Schatten ein herzlicher Humor überglänzt, neigt sich
jüdischer Bevölkerung des Landes, ergreifen jeder auf seine
zu sehr gegen das Niveau des besseren Unterhaltungsromans.
Art etwas von dem sanft-schwermütigen, widerstandsschwachen,
Von den mährischen Novellen sind viele vortrefflich, wahrhaft
sinnenfroh-nachdenklichen, in allewege mehr betrachtsamen als
meisterlich aber doch wohl nur die einzige „Ruzena Capek“ —
tatkräftigen Menschenschlage der Marchebene. Als Dichter sind
eine der letzten Arbeiten Davids, der kurz vor seinem Ende
sie ungefähr gleichen Ranges: die Ebner stcht voran durch
erst auf den rechten Weg gekommen war. Was hier und in
äusseren Umfang und die soziale Reichweite ihres Werks, das
wenigen anderen Stücken gleicher Art geboten ist, lässt ähn¬
aber unausgeglichen und im einzelnen sehr verschiedenen Wertes
liche Arbeiten Saars und der Ebner weit hinter sich. Der
ist; Saar erscheint auf weitaus engerem Gebiet als der lautrere,
dist inguierte Wiener Saar hat das mährische Dorf und seine
stets das Mass beachtende, unermüdlich feilende Künstler;
Bewohner, deren Sprache ihm unbekannt und unsympathisch
David, der Vorzüge beider Vorgänger mitunter entbehrend.
war, nur von aussen gesehen und als Kuriosität so betrachtet
beider Schwächen oft teilend, steht über ihnen durch den tieferen
wie dargestellt; die Ebner, mit Umwelt und Idiom von Kindes¬
Ernst seines allemal schmerzlichstem Erleben entsprossenen,
beinen vertrant, aber als hochgeborene Gräfin der Geseilschafts¬
mit dem eigenen Herzblut genährten Schaffens. Aber sein Werk
#tule der Dörfler zu weit entrückt, sah nur von oben auf sie
blieb Bruchstück, Beginn. Versuch; während den älteren Weg¬
hinab: David allein, selber dem dargestellten Milieu entwachsen.
genossen die Patriarchenjahre gegönnt waren, raffte ihn, den
stand zugleich in ihm, ausser ihm, über ihm. Als er, 1859 ge¬
von Anbeginn durch Armut und körperliche Anfechtungen Ge¬
beren, durch die heimatlichen Schulen lief, waren diese überall
hemmten, schweres Siechtum im besten Mannesalter hinweg.
nech deutsch, wie ja auch Mährens Landes- und Gemeinde¬
Auf dem Sterbelager hat er mit illusionsfreier und doch hoff¬
vertretung vermöge einer den Besitz und die Bildung bevor¬
nungsvoller Klarheit sein Schaffen also beurteilt: „Ich übersche
Frechtenden Wahlordnung überwiegend in deutschen Händen
mein Werk: es ist ja natürlich Torso geblieben, wie es bei einem
lag. Noch galt das slawische Idiom als Stapfe, ja Stigma des
sein und bleiben musste, der zunächst Brot . .. zu beschaffen
niedleren Volkes, des Vulgus, vermieden sogar von den Sprach¬
hatte. Ich vergleiche es mit dem, was andere vollbracht haben.
genossen, die, solchen Niederungen sich entring .d, zu Ver¬
die unsere Zeit mit ihrem Namen und ihrem Ruhm erfüllten ...,
mögen. Stellung, Anschen gelangt waren. Ein Menschenalter
und bei Anwendung all der strengen kritischen Schule, die ich
später hatte sich das Blatt gewendet: der deutsche Firniss
einmal gelernt habe, ich meine bestehen zu dürfen, ich haltes
bröckelte ab., in die Landes- und Gemeindestuben zogen
für ein Unrecht, würd' ich ganz vergessen“ (an Erich Schmidt,
#tschechische Volksführer — Advokaten, Journalisten, Lehrer,
Ende Oktober 1906: S.W. I. S. V). Zu einem grossen, einem
Priester — ein, die Unterrichtssprache in den höheren Schulen
ganzen Erfolg hat er es zu Lebzeiten nie gebracht, und darunter
konnte nicht länger die der zurückgedrängten Minderheit sein.
hat nicht nur sein persönliches Geltungsbedürfnis (das, wie bei
allen menschenschehen und einsamkeitserstarrten Menschen, Ein Menschenaltei später — und David wäre ein tschechischer