VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1931–1933, Seite 5

Willen derer, die wieder ihre Leute in deutschen Gelangenen¬
lagern wussten.
Ohne auch nur das geringste Recht auf Selbstbestimmung,
herdenweise eingezäunl, blieben sie dennoch Menschen, mit aller
Sorge, die Menschen auszustehen haben, mit aller Sehnsuchl,
deren Meuschen fähig sind. Was musste entslehen, was ist ent¬
standen? Das, was die Fachleute dann „Stacheldrahtkrankheit“
oder „Lagerfimmel“ genannt haben. Zerstörung des scelischen
Gleichgewichts, körperlicher Zusammenbruch, tollkühne Flucht¬
versuche, Auflehnung ganz vergeblich!
Dagegen gab es nur eines: Zerstreuung. Aus der innersten
Natur heraus meldet sich die Lust am Spiel. Sie äussert sich
wie Hunger und Durst und andere Triebe der Kreatur, spontan
und unbezähmbar. Einsichtige Lagerkommandanten merken das
und fördern die friedsam beruhigende Unterhallung. Hier war
ein Mittel, die Disziplin zu sichern, und umgekehrt, welch aus¬
gesucht harte Strafe, wenn man die Erlaubnis zurückzog!
In den hermetisch verschlossenen Bezirken der Lager tut sich
ein Reich der Phantasie auf. Je nach den vorhandenen Möglich¬
keiten gestallet es sich in denkbar primitiver Form, und an¬
steigend gelangt es zu einem Grade, der sich der Vollkommen¬
heit nähert. Was die Urvölker an „Kunst“ ersonnen hatlen,
was der naivste Mimus zu erzeugen versucht hatte, ohne Wissen
um diese Vergangenheit entstcht es hier von neuem und
schreitet fort, bis sich auch bewusster Kunstwillen meldet und
in Darstellung, Regie und Inszenierung die gesteigerten An¬
sprüche der Gegenwart befriedigt. Wer die mit gewaltigem
Fleiss gesammelten Berichte liest, die Hermann Pörzgen jetzt in
einem Bande „Theater ohne Frau“ über das Bühnepleben der
kriegsgefangenen Deutschen 1914 bis 1920 im Osteuropaverlag
hat erscheinen lassen, hat in einem Querschnitt die Geschichte
des Theaters überhaupt, von den frühesten Zeiten bis in unsere
Rührend, es gibt kein anderes Wort, sind die Nachrichten
über die Bühnen, die sich der simpelsten Mittel bedienten, um
dem Drang nach Entspannung zu genügen. Leere Kisten sind
das Podium, wollene Decken und Betllaken oder auch zusam¬
mengenähte Hemnden und Taschentücher sind Kulissen und Vor¬
hänge. Perücken aus Strümpfen eder Teertau. Zur Beleuch¬
tung dienen die kleinen Petroleumlampen, mitgebracht von den
Theaterbesuchern und vorn an die Rampe gestellt, mit der Front
auf die Spieler. Eine Ritterrüstung wird aus Konservenbüchsen
Lergestellt, Geigen und Gitarren aus Makkaronikisten:
„Lackstiefel trug man ohne Sohlen
Und schminkte sich mit Eierkohlen.“
Dann, an anderen Plätzen, gibt es schon Sonnenuntergang,
Mondschein und Regenbogen. Man hat Theater, die wirklich
diesen Namen verdienen, mit Bühnenrahmen, mit „echten“ Re¬
quisiten, mit Schnürboden, mit Oberlicht. Denn in diesem Riesen¬
kunterbunt von Gefangenen finden sich vereinzelt ja auch Tech¬
niker, Maler und „gelernte“ Bühnenkünstler. So leitet der Film¬
regisseur G. W. Pabst in lle Longue eine hochkul.ivierte Bühne,
Die Kunstangelegenheiten werden vielfach auf genessenschaft¬
licher Grundlage betrieben. Es bilden sich feste Normen heraus,
mit der Wahl der Direktion, mit genauer Umschreibung der
Rechte und Pflichten des kürslierischen Leiters. Auch an Kritik
fehlt es nicht, und sie äussert sich oft in sehr Grastischer Art.
Die Frage der Eintrittspreise wird genau geregelt. Manchmal
zahlt man, zugunsten der Spieler, nur eine Zigarette. Wiederum,
einheimische Zivilbesucher, die sehr neugierig sind, was die
deutschen Gefangenen da eigentlich treiben, laden noble Spenden
ab. Man kann von Bühnen sprechen, die glänzende Geschäfte
machen. Keine Abart fehlt, das Rudbild „Theater“ ist voll¬
kommen.
Auch gespielt wird einfach „alles“, Goethe, Schiller, Kleist,
Ibsen, Hauptmann, Strindberg, Björnson, Schnilzler, Sudermann,
Tolstoi, Wilde, Fulda, Meyer-Förster. e und be¬
kannten Namen reissen nicht ab. Daneben Operetten und
Marionettenspiele, und dann die aus dem Lagererlebris selbst
zusammengezimmerten Stücke. Die Vorgänge im Lager finden
ihre Dichter. Das Lagerstück ist naturalistisch, ist satirisch.
Es ist der Spiegel, in dem man sich selber sieht, es ist das ge¬
meinsame Schicksal und, ausgesprochen oder nicht, öffnet es der
Sehnsucht alle Pforten. Hleimweh haben sie alle: Hoffnung auf
endliche Befreiung, so oft entläuscht, für viele bis lange nach
Kriegsende, will sich auch in den Darbietungen bestätigt sehen.
So dient, in seiner Gesamtheit, der Spielplan dem innersten
Bedürfnis der Menschen, wenn sie sich der Kunst zuwenden:
Erhebung und Ablenkurg und wiederum Hinlenkung zur eigenen
Person und zu den Wünschen des Individuums.
Die Darsteller entstammen dem Publikum, Gefangene unter
Gefangenen, und kehren wieder dahin zurück. Die Stücke wech¬
sein, die Komödianten auch. Einer jedoch wird Star, das ist der
Damenspieler. Viele von uns überfällt ein sanftes Grauen, wenn
wir von Männern hören, die sich transvestitisch in Frauen ver¬
wandeln. Aber hier, in der frauenlosen Zoue, waren sie not¬
wendiger Ersatz, mit Begeisterung aufgenommen. Hier schufen
sie das Bild des Weibes, das man entbehrte. Hier waren sie die
Träger der Erinnerung und des heissesten Verlangens. Es soll
Beweise geben, dass die libido sexualis der Gefangenen sich eher
beruhigt als verstärkt hat, wenn sich das Auge an der „Frau“
weiden konnte. Jedenfalls konnte das „Theater ohne Frau“ ohne