VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 16

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2. Cuttings
1898
Das Magazin für Litteratur.
Nr. 33
Aehnliche Gebanken hatten die Orphiker deren Stamm¬
Frau“ verkörpert. Die hat ihr Kind aus den Armen
vater Orphens durch die Wälder stürmte, singend um
fallen lassen und so ihr Herrlichstes getötet. Ihr Glück
seiner selbst willen. Diese Idern tönen auch aus den
ist vorbei. Die graue Trauer ist der weitere Inhalt
zarten, melodischen Liedern des Constantin Christomanos
ihres Lebens. Da scheint es noch einmal, ihr Unglück
hervor. Ihm aber ist dieses Göttliche die Schönheit.
könne sich wenden. Sie hält ihren Einzug in das
Nach ihren wechselnden Formen, aber ewigen Gesetzen
jugendliche Haus Aglaias und Lysanders; dort soll sie
sucht sein dichterisches Schaffen.
beider Knaben Dorus warten. Sie kommt zu seltenen
Menschen: Aglaia ist erfüllt von Sehnsucht nach dem
Otto Sachs.
Unnennbaren. Sie will etwas im Leben bedeuten, mehr
Von einem jungen Dichter, der uns gestorben ist,
sein als eine von den Vielen. Eine Träumerin ist sie.
bevor seine künstlerische Kraft auf die große Außenwelt
Wie sie ganz jung, ein kleines Mädchen war, da liebte
hatte wirken dürfen, veröffentlichen Freunde nach dem
sie einherzugehen in blumenfarbenen Kleidern; denn sie
frühen Tode zwei Novellen.*) Sie tragen Trauer in
wollte zu den Blumen gehören, der Gräser und Blüten Leben
unsere Seele. Man darf, ohne pietätvoller Schwärmerei
wünschte sie mitzuleben. Nun schwellen Erwartungen ihr
geziehen zu werden, seiner Ueberzeugung folgend, sagen:
Herz. Ihr Sonnenschein ist der kleine Dos, ihr Knabe.
Ein Dichter starb uns. Einer Hoffnung wurden wir
Ihr Gemahl ist Lysander. Sie liebt ihn und wird von
beraubt, bevor wir noch recht wußten, daß wir sie hegen
ihm geliebt. Allein auch er ist noch ein Suchender. Er
durften.
wie sie hasten, die Größe der Welt zu erfassen ihren
„Von zwei Geschwistern, sagt die Geschichte, die
Sinn, und Gründe und Zweck des menschlichen Daseins.
einander mehr liebten, ale sie durften, dennoch aber von
Zu diesen glückersehnenden Menschen kommt die graue
ihrer Liebe nicht weichen, sondern gegen die Welt leben
Frau. Ihre Trauer peinigt die Beiden, die niemand
So hebt in der Art einer
und sterben wollten...
leiden sehen wollen. Ihr Kind Dorus soll der Unglück¬
edelgeführten Chronik die eine der beiden Novellen an.
seligen ein neues Glück schaffen. Aglaia legt den Knaben
Ippolito kommt aus der Fremde heim in's väterliche
selbst in ihre Hände. Und die graue Frau gehl mit dem
Schloß. Seine Stiefschwester Atalanta darf er dort er¬
Knaben zum Fenster, unter dem sich an den Klippen das
blicken, die voll jugendlicher Schöne ihrer ersten Liebe
brausende Meer tönend bricht. Nun denkt sie an ihr
harrt. Das verzehrende Feuer der Leidenschaft erfaßt
totes Kind. Ebenso hat sie es in den Armen gehalten,
beide. Kaum suchen sie nach einem Schein der Recht¬
wie sie am Fenster stand. Fest hatte sie die Arme die
fertigung für ihr verbrecherisches Tun. Ein vergilbtes
den kleinen Leib umschlangen, zusammengepreßt. Ihr
Blatt, gefunden im Zimmer der verstorbenen Mutter,
ganzes Ich hatte sich damals in dem einen Gedanken
läßt beide hoffen, daß Atalanta nicht in der Ehe mit
concentriert: Ich darf das Kind nicht fallen lassen. Aber
Ippolitos Vater gezeugt worden sei. Nun zwingt die
gerade in dieser angestrengten Willenstätigkeit, da hatten
Liebe die jungen Leute zu einander. „Und das Braut¬
sich ihre Arme geöffnet, das Kind entfiel ihnen. So ist
gemach der Mutter sah die blutschänderische erste Liebes¬
sie die Mörderin ihres Kindes, ihres Glückes geworden.
nacht der Tochter.“ Nichts vermag die beiden auseinander
Daran muß sie jetzt denken, da sie den kleinen Dos im
zu reißen. Die Kirche schleudert den Bann gegen die
Arme hält. Und im Reflex ihrer Gedanken, wie sie die
Frevler bedroht ihr Leben.. Da man sie um Recht¬
schreckliche Scene noch einmal vor sich sieht, da öffnen
fertigung angeht, verschweigt das durch den Stiefbruder
sich wiederum die Arme, und der kleine Dos, Aglaias
zum Weibe erblühte Mädchen nicht: Wir hätten uns auch
Das große
Sonnenstrahl, fällt in's Meer
angehört, selbst wenn wir geglaubt hätten, Geschwister zu
Leid war unabwendbar. Es hatte so kommen mussen,
sein. Die Schrecken des mittelalterlichen Bannfluches
sonst wäre sie nicht das große Leid gewesen, die graue
brechen herein. Nur eine kleine Schar lebensmüder, aber
Frau, das traueige Element des ewigen, heiteren und
todesmutiger Männer harrt an ihrer Seite aus. Die
düsteren Lebens. Verzückt hat Lysander der grauen Frau
eiserne Kette verbindet die Krieger, damit das nämliche
zugesehen. In ihr hat sich ihm das Wesen der inneren
Geschick Tod oder Sieg, alle vereine. Ippolito und
Schönheit offenbart. Sein persönliches Leid gelangt nicht
Atalanta verschmähen die äußere Fessel. Sie haben
zu seinem Bewußtsein. Nur das waltende Schicksal
gekämpft. Erhöht durch die gewaltigste, letzte menschliche
die äräyzy der Griechen — verspürt er, die den Menschen
Leidenschaft haben sie der Welt getrotzt. Dieweil sie
bezwingt. Deshalb sinkt er in die Arme der grauen
fallen, siegen sie. Denn sie haben ihr Leben gelebt, den
Frau, der Schicksalsbringerin, mit der ihn gemeinsame
Becher geleert, dem Zuge ihrer Seele sind sie gefolgt.
Trauer eint. Aglaia aber, halb im Wahn halb bei
So haben sie die Mission des Menschen auf Erden erfüllt.
Sinnen, läuft in den Garten, sie will wie einstens eine
Was ein Gott in ihre Brust gelegt, haben sie bewahrt.
Blume sein.
Darum haben sie gekämpft. Dann sind sie gefallen,
Dieses dramatische Gedicht hat viel Ergreifendes; seine
siegend Besiegte.
poetische Schönheit weist sich wol schon aus dieser Inhalts¬
Es fällt wol niemand ein, den seltsam psychologisch¬
skizze nach. Ob seine Tiese vom Theater herab auf das
moralischen Standpunkt an diese Dichtungen anzulegen,
große Publikum wirken wird, das muß ich bezweifeln.
cwa zu sprechen von Blutschande, oder von dem natür¬
Die „Orphischen Lieder“ sind von dem pantheistischen
lichen Gefühle der geschwisterlichen jeder Sinnlichkeit
Gedanken erfüllt den diese Dichter, die Orphiker, lange
entkleideten Liebe. Denn das ist ja die Tat des Dichters,
vor den pantheistischen Philosophen in ihren Liedern
daß er dort den menschlichen Konflikt zeigt, wo scheinbar
aussprachen. Alles ist Gott. In jedem winzigen Dinge
die Natur im Widerstreit mit sich selbst liegt. In Wahr¬
ist Er. Der Grashalm, ich der kleine Mensch und der
heit ist die Natur einheitlich, rein und klar, sie keum
Heros der hart und unbeugsam die Welt unter seine
keine Konflikte. Wir Menschen haben diese erst in sie
Botmäßigkeit zwingt, — alle haben ein Gemeinsames
hineingetragen, in dem wir fälschlich Gesetze feststellten,
das Göttliche.
Vielleicht darf man es auch die Seele nennen. Das
Otto Sachs: Von zwei Geschwistern. Berlin, Schuster u.
Moment, in dem die Bedeutung alles Seienden liegt.
Löffler, 1898.
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