VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 32

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2. Cuttings
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Die Nation.
Dramaturgie der Gegenwart". Erste Reihe: Das dramatische Größte erscheinen, das dieser Boden hervorgebracht. Nun,
Schaffen in Oesterreich, auf den Plan.
das ist ja heute wohl ein Glaubensartikel geworden, an
Bestand ein Bedürfniß nach einer solchen Zusammen¬
dem Niemand mehr zweifelt. Niemand hat die alten Formen
fassung? Der Autor selber fühlte die Möglichkeit einer
so wie er mit neuem Geiste erfüllt. Mit den Mitteln
solchen Frage und entgegnete darauf, indem er die eigen= aus alten Bühnenhandwerken — man merkt durchaus bei
thümliche Stellung des deutschösterreichischen Dramatikersihm, daß er für das Vorstadttheater schrieb, wo ein
dem Reiche gegenüber betonte. Gewiß, es wird uns hier
„Schlager“ zum Aktschluß für die Sensationslust des
schwer gemacht; aber wir haben keinen Markt mehr und
Zuschauers nicht genügte, wo der Aufzug in Bilder
zerfällt werden mußte, damit sich die Wirkung selbst
wer mit der Karre zu Kram fährt, der hat es übler, als
hat er Eindrücke
innerhalb des Theiles potenzire
der, dem die Haltestelle der Eisenbahn vor der Nase hält.
Uebrigens ist das besser geworden; an Versuchsbühnen fehlt
erzielt, die vor ihm Niemand ahnte. Selbst seine
es mindestens nicht, seitdem das Carltheater auch für ernste
schwächste Arbeit hat immer mindestens eine Figur von
selbstverständlicher
S
Größe, einen Gedanken, eine
Arbeiten zu haben ist und man für nahe Zukunft mit dem
Szene von unendlicher Schönheit. Sein Steigen ist mühe¬
Währinger Theater wird rechnen dürfen. Er betont ferner
jene innere Gemeinschaft, welche diese Gruppe Schaffender
los. Den Doppelgipfel der Tragik und des Humors hat
mit einander hat: sie tragen in der That allesammt gemein¬
er allein erklommen; die alte Form, die er zur Hand nimmt,
same Züge. Den Einen, nicht sehr Erbaulichen, hat Sitten¬
wandelt sich, wie ihm unbewußt, unter seinen Fingern.
berger gut herausgewittert: es ist etwas Dillettantisches
Er modelt, ohne zu zerbrechen — aus der Bauernposse
in Jedem von ihnen. Es geräth ihnen oder es gee##
steigen schlank und schön die „Kreuzelschreiber“ gen Himmel,
ihnen nicht: sie haben Stoffe und Einfälle, die ihnen aber
aus dem Volkstücke mit seiner eindringlichen Moralität, mit
seiner biedermännischen Warnung zu Bescheidenheit und
nicht organisch weiter wachsen. So ganz besonders Nissel,
Beschränkung ersteht das furchtbare „vierte Gebot“. Es
der sich gerne berühmt, ihm, dem Schauspielerkind, aufge¬
steht geschrieben: „Du sollst Vater und Mutter ehren“ —
wachsen im Anblicke der Bühne, habe das Handwerks¬
mäßige eines Stückes niemals die mindesten Schwierigkeiten
gilt
aber sie müssen darnach sein. „Ja ja, wir haben a
Kreuz mit unsere Kinder“ sagt die alte Schalanter, da
gemacht und der dennoch niemals mit dem Handwerks¬
man ihr den Sohn zum letzten Gang führt. „Ja, wir mit
mäßigen des Dramas ins Reine kommen konnte. Er ist
in dem Buche mit besonderer Liebe und eingehend be¬
oder sö mit uns“ entgegnet der Gatte. Wer einmal
eine Untersuchung über das Wesen des tragischen Epigrammes
handelt. Ein bedenkliches Vorbild, bedenklich für einen
Mann besonders von seiner eigenen Schwäche der Gesinnugg,
schreiben wird, sich dieser Arbeit unterwinden will, die es
reißt ihn immer wieder aus seiner Bahn. Epigone durch¬
lohnen würde und gemacht sein sollte, der wird gerade bei
aus, strebt er Schiller mit heißem Bemühen nach. Im
Anzengruber unerschöpfliches Material finden, wie es ge¬
Streben nach dem Typischen verfliegt ihm alles Mensch¬
spitzt und geschliffen wie ein edler Dolch im Dialog auf¬
liche: und sein Liberalismus, dieser innerlich unklare und
zublitzen hat, wenn es wirken soll. Seine Verwendung bei
phrasenhafte altösterreichische Liberalismus, der denn doch
Anzengruber steht recht im Gegensatz zu der Art, in der
etwas Anderes als der große, unbändige Zorn des Schwaben,
es Grabbe als selbstständiges Kunstmittel ausgebildet
und gepflegt hat.
durch dessen Seele der erste Odem der französischen Revo¬
Sich übersteigen konnte Anzengruber nicht. Er gemahnt
lution geweht, schädigt ihn erst recht.
Es gehört Geduld dazu, sich in Nissel so zu vertiefen,
in dieser Hinsicht an Raimund, der es ja auch und immer
wie es hier geschehen; ist. Aehnlich sind die übrigen Epi¬
mit gleichem Mißerfolg versucht hat. Sie hangen Beide mit
gonen behandelt: Mosenthal, ein höchst geschickter Hand¬
tiefgeheimen Banden mit dem Volke zusammen und jedes
werker, ein Rechenkünstler der Bühne, an dessen Beispiel
Sinnen der Seele des Gedrückten wissen sie zu deuten. Aber
man so recht erkennt, wie wenig ein Erfolg von innerer
sie sehen sehr zu Unrecht Andere über sich: und wo sie's denen
Wahrheit bedingt sein muß; durchaus gesinnungslos, aber
nachthun wollen, so sind sie hilflos und thun gespreizt und
alle ihre Anmuth und natürliche Größe ist dorthin.
seiner Mittel gewiß, wie wahllos in ihrer Auslese. Weilen,
der ganz vergessene Prechtler, der nicht ohne Gaben war,
Es ist dann, als hätte man das Bedürfniß, auf den
der aber niemals über ein gewisses Tappen hinauskam.
Glockner einen Aussichtsthurm zu stellen. Schule gemacht
Halm und Pudtlitz fehlen; aber Halm hätte mindestens
hat eigentlich keiner von ihnen. Raimund konnte es nicht,
gestreift werden müssen. Denn er reicht noch in unsere
weil hinter ihm unmittelbar der Zerstörer kam: Nestroy,
Tage, behauptet sich heute noch auf der Bühne und theilt
der mit hämischem Behagen diese holde Märchenwelt ent¬
götterte. Anzengruber nicht, weil das „vierrte Gebot“
mit unserem Größten, mit Grillparzer, die Neigung für die
Spanier. Er hat ihren herben Wein mit Zuckerwasser ver¬
schließt: es gibt keinen darüber hinaus, es gibt keinen Weg
daran vorüber. Man muß neue Künste versuchen. — Ein¬
süßt, während ihn Grillparzer in der „Jüdin“ mit Oester¬
reicher verschnitt. Saar, dessen Streben nach der Bühne
fluß geübt hat er allerdings und dieser Einfluß wird
nothwendig an einer gewissen Schwäche dieser Natur, die
immer größer werden, je ferner uns seine Gestalt rückt.
so durchaus aufs Beschauliche, auf leise Stimmungen und
Eine Jüngerin haben wir ja seines Wesens in der
klugen Frau Langkammer, Richard Nordmann, die mit ihm
Schwingungen hin gerichtet ist, erfolglos bleiben mußte. Als¬
die gewisse, intime Kenntniß gewisser wienerischer Verhältnisse
dann Hamerling in seinen recht unsinnigen dramatischen
Versuchen. Bei Hamerling war allerdings Kraft, aber Kraft
theilt, die gleichfalls mit den Forderungen der Bühne sehr
vertraut ist und der im Buche unbedingt ein breiterer Raum
des Denkenden und nicht des Gestaltenden. Er verachtet die
gebührt hätte. Denn „Gefallene Engel“ sind durchaus
Charakteristik. Wie Jeder, der sie nicht vermag. Hier liegt ein
werthvolles Material beisammen und es ist dem künftigen
beachtenswerther, als zum Beispiele Rosegger's thörichter,
ja unmöglicher „Tag des Gerichtes“, mit dem sich Sitten¬
Litterarhistoriker durch eingehende Analysen und Hinweise
berger recht gründlich auseinandersetzt, oder als Dörmanns
manche Arbeit gespart. Denn das Meiste von dem, womit sich
„Ledige Leute“ Carlweis aber gehört gar nicht in diese
Sittenberger beschäftigt, ist schon todt und keiner
Richtlinie. Ich schätze seine Talente zu sehr, als daß ich
Wiederbelebung fähig. Wenn er aber Grillparzer über
nicht gegen eine falsche Einschätzung protestiren möchte. Hier
Raimund stellt, so möchte man streiten. Ich weiß in aller
klafft nämlich bei Sittenberger eine Lücke. Er hat kein
Weltlitteratur nichts, was sich mit dem Abschied der Jugend!
Wort über jenes wienerische Volksstück, das geraume Zeit
vergleichen ließe. Und für die Werthung eines Dichters
hier dominirt hat, das dreist und mit einem gewissen
sind doch nur die Höhen entscheidend, zu denen sich sein
Selbstvertrauen in die Fragen des Tages eingriff, das dem
Schaffen emporhob.
Schauspieler reichlichen Raum zur Bethätigung seiner Laune
So gelangt er bis zur unmittelbaren Gegenwart. Er
und seines Könnens gab. Hier, bei O. F. Berg, Friedrich
selber ist durchaus modern, in Realen allein sieht er das
Kaiser, dessen Wiederbelebung heute, trotz eines Versuches
Heil, sieht es besonders für diesen Stamm, dem wir ent¬
im Raimundtheater, für ausgeschlossen gelten muß, Elmar
sprossen sind. So muß ihm wohl Anzengruber als das
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