VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 33

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2. Cuttings
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Die Nation
und Costa, der doch erst kürzlich mit Bruder Martin sich] Doktrinäres im Lorenco von Medici, im schrecklichen Cesare
wieder einen großen Erfolg geholt hat, hier also ist diese! Borgia oder im Lionardo und den anderen Bildnern bis
zu Michele Angelo. Sie trugen alle die Rechtfertigung
liebenswürdige und frische Begabung anzuschließen. Er hat
ihrer Thaten in sich: sie mußten nicht erst nach Gründen
das Verdienst, eine Quelle neu erschürft zu haben, die über¬
suchen, mit denen sie ihr Thun verdecken wollten. Der
schüttet schien und aus der Männer vergangener Zeiten gerne
Doktrinarismus hat nun eine von zwei Quellen: — er ent¬
getrunken haben. Denn der Trunk war lauter und frisch:
springt innerer Feigheit oder Beschränktheit. Feig sind wir
und in jenen echt wienerischen Wendungen, die sich ein¬
wohl: wir renommiren also gerne; jene Vollmenschen aber
prägen und charakterisiren, hat es ihm seit Nestroy niemand
waren es wahrhaftig nicht. Fein ist sein Wort über das
auch nur gleich gethan. Und es ist immerhin ein löblicher
„süße Mädel“ — es sei so gar leicht zu zeichnen, denn es
Ernst in ihm, er will nicht bloß der Lustigmacher sein und
mache so wenig Umstände, seinen Charakter zu enthüllen,
baut sein szenisches Gerüst fester und tragfähiger, als die
wie seinen Körper. Dabei wird er dennoch der schmeich¬
vor ihm. Er hat von den Modernen herüber genommen,
lerischen Kunst von Loris vollkommen gerecht. Er ist
was irgend brauchbar war für seine Zwecke.
immer noch unsere beste Verheißung, die nur lange mit der
Einen gewissen Muth bekundete Sittenberger in der
Erfüllung zögert. Vielleicht ist er nun in jenes Stadium
Besprechung der unmittelbaren Gegenwart. Er traut sich
getreten, in welchem sich die Blume schließt, damit sich
einen entschiedenen Vorstoß gegen Bahr. Und das ist heute
der Samen bilden könne. Und seine wärmsten Töne hat
in Wien ein gewagtes Unternehmen. Denn Bahr ist eine
er für Schnitzler. Er ist wohl unser bester Besitz. Ein
Macht und ist es geworden durch Eigenschaften, die diesen
rastlös Lernender; um jede Technik mit gleichem Ernst
Erfolg leicht begreiflich machen. Er ist ein Blender; er hat
und mit gleichem Fleiß bemüht und in der glücklichen Lage.
viel gesehen oder sich mindestens von Anderen berichten
unbeirrt seiner Wege gehen zu dürfen, stark genug, sich durche
lassen, was sie gesehen haben. Er ist nicht eigentlich
keinerlei Versuchung ablenken zu lassen, unermüdet in jenem
wandelungsfähig: vielmehr begabt mit einer sicheren
Aneignen, das den eigenen Besitzstand stärkt und in Eines
Empfindung für die Richtung, aus welcher der Wind eben
mit der innersten Natur verwächst. Von den Franzosen ist
zu wehen begann. Er hat eine Fähigkeit zur Clique¬
er ausgegangen: man merkt es, daß Maupassant an seiner
Bildung, die ganz erstaunlich und nur aus dem inneren
Wiege stand. Nun aber, voll gewachsen, hat er seine eigene,
Bedürfniß einer Natur zu erklären ist, welche wohl weiß, daß
zarte Natur, nicht aber so mannigfaltig, wie modulations¬
sie eines großen Gefolges bedarf und es immer zu zügeln fähig
fähig. Auch da kann man nicht gut abschließend urtheilen.
sein wird. Er ist rücksichtslos in der Anwendung seiner
Schien nach „Liebelei“ sein Horizont etwas gar umgrenzt,
Macht, überschwänglich im Lobe, wenn er sich Eines ver¬
so führte ihn schon „Freiwild—in freiere Weiten und
sichern will, gehässig und fast immer persönlich im Angriff.
nach dem erstaunlichen Wachsthum, welches der Novellist
Dies aber nur, weil sein eigenstes Wesen impetnos ist,
in „Die Frau des Weisen“ bekundete, bin ich recht gespannt
weil das Losgehen immet noch in ihm steckt. Er bedarf
auf „Das Vermächtniß", welches uns die nächste Saison
des Einflusses und weiß ihn zu organisiren: ist mit publi¬
bringen wird. In Ebermann sieht er nach „Die Athenerin“
zistischen Fähigkeiten begabt, wie sie nicht leicht neben ihm
woesentlich einen Epigonen. Es wird des zögernden und be¬
Einer heute in unserer Stadt besitzt: ist rastlos und versteht
dächtigen Arbeiters Sache sein, diese Meinung endgiltig zu
es immer, ein Schlagwort auszugeben, das sogar einen
widerlegen. Einen gewissen Reichthum im Ausbau der Situ¬
Sinn haben darf. Durchaus auf Wirkung und auf unmittel¬
ationen gesteht er ihm zu: mir aber scheint im Charakter der
bare Wirkung gestellt, strebte er nach der Bühne seit mehreren
Phryne mehr zu stecken, als man ihr von mancher Seite
Jahren und nicht ohne Glück, wie denn sein „Tschapperl“
zubilligen wollte. Vielleicht machte sich bei ihnen im Reich
einigen Erfolg hatte und seine Josephine" mindestens zog,
ein gewisser Rückschlag gegen den Ueberschwung geltend, mit
so wenig sie Leuten von Urtheil etwas zu sagen hatte. Er
dem bei uns sonst nüchterne und sicherlich urtheilsfähige
strebt gar nicht nach der Tiefe; verblüfft für sein Leben
Männer die neue Erscheinung begrüßten. Von Philipp
gerne und hat eine gute Portion vom übermüthigen und
Langmann erhofft er sich viel, dies muß man wohl nach
behenden Gaßenjungen an sich, den man nicht fassen kann, wenn
Bartel Turaser thun, zumal hier das Glück in ein durchaus
er den Widersacher von allen Seiten beschmützt. Mit ihm
junges und entwickelungsfähiges Leben trat. In Burck¬
nun bindet Sittenberger an. Er sagt eigentlich nichts, was
hard sieht er wesentlich den Satyriker. Nur mußte bei
man nicht so sich zuflüstern würde Er findet ihn unkünst¬
Bürgermeisterwahl“ ebenso gut auf Hauptmanns Einfluß
lerisch; findet als seine stärkste Gabe die, gewisse Erscheinungen
hingewiesen werden, wie bei Turaser, da spricht der Biberpelz
des Tages im Zerrbilde festzuhalten. Mir deucht, im
mit. Und Burckhard hat etwas vom Juvenal. Es ist ein
Etwas Markt¬
„Theater“ stecke denn doch schon mehr.
erstaunlicher Reichthum in diesem Menschen, der allein unter
schreierisches sieht Sittenberger in ihm. Das ist aber nicht
Nur sein Zynis¬
Allen an die Renaissance erinnert.
gut anders möglich bei ihm, der auf die Menge wirken
mus paßt nicht dazu, der ist modern und wienerisch. Denn
will, immer den Glauben erwecken muß, als stände er und
wir sind Zweifler und haben angesichts der trostlosen und
er allein immer auf Mensur. Wer sich auslegt, der ge¬
immer verworreneren Verhältnisse bei uns, offenen Nieder¬
winnt schon dadurch, wer dazu immer noch schlägt,
ganges und geheimer Zersetzung allen Grund dazu. Was
und seien es auch nur Lufthiebe, dem kommt ein Unbe¬
Sittenberger über mich sagt, darüber steht mir kein Urtheil
wehrter nicht gern in die Nähe. Es ist eine fast persönliche
zu. Daß er mir Klarheit des Wollens zugesteht, darf mich
Gereiztheit in der Art, mit welcher Sittenberger von ihm
wohl freuen, dem man kaum nur mit allen Verdächtigungen
und von Rudolf Lothar spricht, über den mir kein Urtheil
in den Weg fuhr.
zusteht. Denn von seinen selbständigen Arbeiten kenne ich
Ich möchte beschließen. Unklar blieb mir nur im
zu wenig; seine beiden Lustspiele habe ich weder gesehen,
Großen, ob die ganze Arbeit auch der Mühe lohne, die da¬
noch gelesen, obzwar sie im Reiche gerne und mit Glück ge¬
ran gewendet wurde, und deren viel ist. Es galt sich durch
spielt werden. Für Mysterien aber mangelt mir jedes
einen Vorrath von Wust durchbrechen, ehe man zur leben¬
Organ „mir graut es vor dem Orte“.
digen Gegenwart gelangte. Eine gewisse Bitterkeit regt sich
Sehr gut ist die Charakteristik Sittenbergers der
manchmal: sie muß wohl entschuldigt sein, denn es sind
Wiener Dekadenten. Er findet etwas Doktrinäres an ihnen.
nicht eben erfreuliche Bedingungen, unter denen wir leben
Das ist wohl richtig: nur, wenn er darauf hinweist, es sei
und unsere Existenz zu erfüllen versuchen. Er machte gute
dies ein unserer Zeit gemeinsamer Zug mit jener einzigen
Beobachtungen vor der Bühne, und er hat jenen Willen
Zeit der Wiedergeburt, die wir die Renaissance nennen und
zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit, ohne den ein Kritiker nicht
nach der wir mit schmerzlicher Sehnsucht uns zurückzufinden
gedacht werden dürfte und der dennoch selten genug ist.
versuchen, so muß dem widersprochen sein. Ich finde nichts
Er hat Urtheil, nur will er es häufig gar zu genau be¬
Doktrinäres in jenen Kraftnaturen, die nach der Allkunst
gründen. Es gibt eben Erscheinungen, bei denen ein ein¬
strebten, die das Leben in sich sogen mit jener Gelassenheit,
mit der eine gesunde Lunge die Luft in sich saugt, nichts faches Achselzucken Urtheil und Begründung desselben zu¬