2. Cuttings
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Ein Wiener Brief.
Von Otto Siveffl.
Man spricht jetzt allgemein und mit großem Enthusiasmus von etwas sehr
abstractem, von einer sogenannten Wiener Cultur, beruft sich dabei wie üblich auf
die Verse der Dichter, auf die Bauten der neuen und der alten Stadt, auf die
Grazie der Mädchen, auf den Walzer und auf die ganze Geberde und Art des
Lebens. Von einer österreichischen Cultur aber wagt schon niemand zu reden.
So stünde also diese eine glückliche Stadt in einem Umkreis von Barbaren. Aber
die Salzburger oder Prager, oder die Grazer mögen sich trösten. Es wird gut
sein, ein bischen nachzudenken über diese Spielerei der Litteraten. Man sollte doch
die Puppe öffnen, ich fürchte Sägespäne werden herausfallen und der volle Körper
wird grausam einschrumpfen. Es ist nämlich sehr schmeichelhaft und förderlich,
wenn man der Stadt, in der man lebt, Cultur nachsagt.
Die Verse der Dichter, die Bauten der Stadt, die Schönheit ihrer barocken
Straßenzüge und das coquette Grüßen einer freundlichen Natur in jeden Winkel
Wiens, alle diese schönen und lieblichen Dinge sind doch kein Beweis von Cultur.
Freilich liegt in manchen von ihnen eine Seele, die man vielleicht so nennen kann,
aber man kann da höchstens von seltsamen Culturfragmenten sprechen. So dieser
wunderbare Donnerbrunnen inmitten eines barbarisch stillosen Platzes eine Barock¬
zier mit wienerischen Nymphen in ihrer herrlichen Costumelosigkeit, die sich in un¬
gezwungen lässigen Geberden auf den Rand des Brunnens hinschmiegen. Oder
die brette Kuppel der Karlskirche, die aus dem Grün von Ufergärten lacht. Oder
die Feierlichkeit des Stephansthurmes; oder der hohe, graue Ernst dieser, die Lust¬
barkeit jener Plätze; die gewisse, nachlässige Cultur der Aristokraten, oder die Reste
der theresianischen Zeit, oder ein paar flatternde Erinnerungen an den Wiener
Congreß in Möbeln oder Frauenkleidern, oder in ein paar Scenen von Raimund.
Das alles aber sind eben nur Fragmente, nirgends ist ein Ganzes; Tradition und
Jugend vereinigen sich nicht, es ist kein starkes, geschlossenes Gewebe, in welchem
der junge Einschlag sich zierlich und dicht zu dem alten Glanze fügte.
Das bunteste und mannigfachste verträgt sich brüderlich, Wien ist kein ge¬
schlossenes, ehrwürdiges Stadtgebilde mit barockem Stil, oder in irgend einer
Stileinheit, sondern umfaßt alle Züge der Kunst, die auf ihrem Weg hierher kam
aber nicht rastete. Was man zugeben kann, und was gerade aus dieser reizenden
Buntheit bewiesen wird ist ein günstiger Culturboden. Aber gerade ein solcher
aufnahmsfähiger, gieriger zeigt, daß er noch nicht tief mit Saaten beschwert war.
Und es ist noch gar nicht solange her, daß Wien sich in seinen Künstlern entdeckte,
höchstens seit dem Wiener Congreß, der eine seltsame Blütenfülle erzeugte: die
Größe Grillparzers, die satirische Wucht Nestroys, die Schönheit der Schubertschen
Musik und die paar wienerischen Bilder und Miniaturen von Gauermann, Daffinger,
Danhauser, und der glückliche Zufall, daß jetzt gleichzeitig aus diesem Boden wieder
ein paar starke Talente gewachsen sind. Aber das ganze Volk müßte uns aus seinem
Leben, aus dem Rhythmus seiner Gesinnungen und Thaten, aus dem Verlauf der
gewöhnlichsten Begebenheiten, aus seinen Helden, Rednern, Staatsmännern, wie
aus seinen gewöhnlichsten Straßenfiguren seine Cultur erweisen.
Vielleicht darf man eine gewisse, sinnliche Cultur der Wiener zugeben, die
sich im Schwung ihrer Musik ausdrückt, sie sind aber auch durch ihre behagliche
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Ein Wiener Brief.
Von Otto Siveffl.
Man spricht jetzt allgemein und mit großem Enthusiasmus von etwas sehr
abstractem, von einer sogenannten Wiener Cultur, beruft sich dabei wie üblich auf
die Verse der Dichter, auf die Bauten der neuen und der alten Stadt, auf die
Grazie der Mädchen, auf den Walzer und auf die ganze Geberde und Art des
Lebens. Von einer österreichischen Cultur aber wagt schon niemand zu reden.
So stünde also diese eine glückliche Stadt in einem Umkreis von Barbaren. Aber
die Salzburger oder Prager, oder die Grazer mögen sich trösten. Es wird gut
sein, ein bischen nachzudenken über diese Spielerei der Litteraten. Man sollte doch
die Puppe öffnen, ich fürchte Sägespäne werden herausfallen und der volle Körper
wird grausam einschrumpfen. Es ist nämlich sehr schmeichelhaft und förderlich,
wenn man der Stadt, in der man lebt, Cultur nachsagt.
Die Verse der Dichter, die Bauten der Stadt, die Schönheit ihrer barocken
Straßenzüge und das coquette Grüßen einer freundlichen Natur in jeden Winkel
Wiens, alle diese schönen und lieblichen Dinge sind doch kein Beweis von Cultur.
Freilich liegt in manchen von ihnen eine Seele, die man vielleicht so nennen kann,
aber man kann da höchstens von seltsamen Culturfragmenten sprechen. So dieser
wunderbare Donnerbrunnen inmitten eines barbarisch stillosen Platzes eine Barock¬
zier mit wienerischen Nymphen in ihrer herrlichen Costumelosigkeit, die sich in un¬
gezwungen lässigen Geberden auf den Rand des Brunnens hinschmiegen. Oder
die brette Kuppel der Karlskirche, die aus dem Grün von Ufergärten lacht. Oder
die Feierlichkeit des Stephansthurmes; oder der hohe, graue Ernst dieser, die Lust¬
barkeit jener Plätze; die gewisse, nachlässige Cultur der Aristokraten, oder die Reste
der theresianischen Zeit, oder ein paar flatternde Erinnerungen an den Wiener
Congreß in Möbeln oder Frauenkleidern, oder in ein paar Scenen von Raimund.
Das alles aber sind eben nur Fragmente, nirgends ist ein Ganzes; Tradition und
Jugend vereinigen sich nicht, es ist kein starkes, geschlossenes Gewebe, in welchem
der junge Einschlag sich zierlich und dicht zu dem alten Glanze fügte.
Das bunteste und mannigfachste verträgt sich brüderlich, Wien ist kein ge¬
schlossenes, ehrwürdiges Stadtgebilde mit barockem Stil, oder in irgend einer
Stileinheit, sondern umfaßt alle Züge der Kunst, die auf ihrem Weg hierher kam
aber nicht rastete. Was man zugeben kann, und was gerade aus dieser reizenden
Buntheit bewiesen wird ist ein günstiger Culturboden. Aber gerade ein solcher
aufnahmsfähiger, gieriger zeigt, daß er noch nicht tief mit Saaten beschwert war.
Und es ist noch gar nicht solange her, daß Wien sich in seinen Künstlern entdeckte,
höchstens seit dem Wiener Congreß, der eine seltsame Blütenfülle erzeugte: die
Größe Grillparzers, die satirische Wucht Nestroys, die Schönheit der Schubertschen
Musik und die paar wienerischen Bilder und Miniaturen von Gauermann, Daffinger,
Danhauser, und der glückliche Zufall, daß jetzt gleichzeitig aus diesem Boden wieder
ein paar starke Talente gewachsen sind. Aber das ganze Volk müßte uns aus seinem
Leben, aus dem Rhythmus seiner Gesinnungen und Thaten, aus dem Verlauf der
gewöhnlichsten Begebenheiten, aus seinen Helden, Rednern, Staatsmännern, wie
aus seinen gewöhnlichsten Straßenfiguren seine Cultur erweisen.
Vielleicht darf man eine gewisse, sinnliche Cultur der Wiener zugeben, die
sich im Schwung ihrer Musik ausdrückt, sie sind aber auch durch ihre behagliche
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