VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 53


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2. Luttings
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links empor. Die einen, an der rechten Seite haschen einander und die zwei
obersten erreichen sich im Kuß, die andern, zur Linken, enthüllen ohne Schreck,
bloß mit einem anmuthigen Staunen das finstere Gesicht der tragischen Muse.
Dieser Stein wird zum Symbol der Wiener Kunst. Den Kuß und den schweren
Tod, den zwiefachen Sinn der Dinge umflattern und enthüllen zierliche, kleine
Liebesgötter.
Dieser Victor Tilgner war sehr glücklich; er wurde rasch berühmt und starb
in seinen größten Stunden.
Es wird gut sein, zu sagen, daß wir noch immer keine moderne Malerei in
Wien haben, denn auch das paßt nicht zum Gleichmaß und der Tiefe einer gut
ausgebreiteten Cultur, die nicht so sehr durch die Größe, als durch die gerechte
Vertheilung der Künstler und die Würde der Durchschnittsleistungen sich auszeichnet.
Im vergangenen Jahr hatte die Jugend in der Künstlergenossenschaft die Vorhand,
und wenn sie auch nicht sich selber als etwas sehr Bedeutendes bringen konnte,
führte sie doch von der Fremde das beste in unsere staunenden Mauern. Aber
jetzt ist schon wieder glücklich alles beim alten.
Zur großen Beruhigung der höchsten Kreise, denen auch solche Revolutionen
sehr zuwider sind.
Also wir leben in der besten Welt patriotischer Anstreicher. Und weil wir
so brav sind, haben wir Cultur. Damit können wir uns ja vielleicht trösten. —
Dann ist? noch das Burgtheater, welches eine interessante Gährung zeigt.
In einer früheren Periode hatte es seinen festen, klaren, strengen Stil, über
dessen Werth man ja streiten kann, der aber immerhin eine Stimmung zusammenhielt
und beherrschte. Nun ist alles über den Haufen geworfen.
Früher wirkten ein paar prächtige Natürlichkeiten unter den andern wie
etwa der Gruß eines Berges in eine Stadt. So standen Baumeister und
Thimig unter den übrigen.
Jetzt fällt aber diese ganze Tradition und gerade ihr Sturz beweist, daß
ihr Styl zur starren Manier entartete. Manche Vorstellungen sind jetzt sehr wunder¬
lich, wo die neuen Leidenschaften und Kräfte elementar hineinzujauchzen und zu
strömen scheinen in den gemessenen, rhetorischen Ton des Ganzen. Sammelt man
aber die classischen Traditionen und sondert wieder die neuen und läßt beide für
sich wirken, so kommen herrliche Vorstellungen heraus. Aber das Ganze ist recht
unorganisch. Übrigens stirbt die Vergangenheit ab, oder schmiegt sich an die Jugend,
so daß bald ein neues Burgtheater sein wird.
Die größte Schauspielerin der alten Tradition: Charlotte Wolter ist
von der Bühne gegangen, vielleicht schon zu spät, — schon hatte das Alter die
classische Reinheit ihrer Züge getrübt, den ehernen Ton ihrer Stimme gebrochen.
Sie war die einzige und letzte des sogenannten „alten“ Burgtheaters, die das wirk¬
lich Heroische und die übermenschliche Tragik ausdrücken konnte, die übrigen
hatten ein gewisses Pathos und eine falsche Rhetorik, was den Mangel der er¬
habensten Leidenschaften ersetzen sollte. Darum vermag der so viel gerühmte
Sonnenthal einem jungen Geschlechte nichts mehr zu sagen und der beste
„Sprecher“ des Burgtheaters, Lewinsky, gewinnt jetzt seine letzte Wirkung aus
einer köstlichen Parodie seines eigenen Wesens.
Von wirklicher Größe und dauernder Jugend ist nur der natürlichste und
bedeutendste Schauspieler der „Alten“ Bernhard Baumeister. Aber ich will
Sie nicht mit allzuvielen Namen bemühen, lassen Sie mich Ihnen nur noch sagen,
daß das neue Burgtheater und seine neuen Stücke von zwei Künstlern getragen
werden: Adele Sandrock und Mitterwurzer. Und daß in Wien eine
junge Schauspielerin am „Deutschen Volksheater“ in classischen, sentimentalen Rollen
beschäftigt wird, die einmal den Glanz des Burgtheaters vermehren wird. Ich
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Neue Deutsche Rundschau (VIII).

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