2. Cuttings
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Kopf= und Herzensrechner
sucht, sich von ihm untersuchen läßt und sich dem überlegenen Genugtuungs¬
gefühl seiner Entscheidung aussetzt. Der Arzt, der dabei auch mehr nach dem
Gesichtspunkt der Salten=Dramaturgie als dem der menschlich=medizinischen
Sitte handelt, erklärt dem Patienten brüsk und mit Anfehlbarkeits-Miene
das Todesurteil. Er habe nur noch sechs Monate zu leben.
Dieses mühsame, mit Zwangs= und Hilfsschiebungen zuwege gebrachte
Rechnungsresultat wird nun so ausgenutzt, daß der Moriturus in verzweifelter
Laune und Erbitterung auf einen grausamen Einfall kommt. Er kündigt dem
Arzt an, daß er ihn in einer Viertelstunde erschießen werde, er wolle an seinem
Beispiele lernen, wie ein Mann gefaßt dem Tod ins Antlitz sehen kann.
Der Vorgang ist jetzt so, daß in diesem Gegenüber außerhalb der mensch¬
lichen Konvention allerdings die letzten Masken fallen. Der glatte, pharisäisch¬
selbstbewußte Schönredner wird, als er den Ernst merkt, von einem irrsinnigen
Entsetzenstaumel und wimmernder Todesangst gepackt, und wütiger Haß geifert
zwischen den beiden. Bis dann schließlich der Jüngere, der in Verachtung und
Ekel ein Genügen gefunden, den drohenden Revolver beiseite wirft.
„Fieberhafte Spannung“ war dabei wohl der theatralische Endzweck
Saltens, aber nicht einmal der wird erreicht. Die Situation übt auf den
wissenden Bühnenzuschauer keinen zwingenden Bann, weil er das allzu durch¬
sichtige, zweckpolitische Arrangement merkt, und weil er weiß, daß Theater¬
pistolen, mit denen so handgreiflich herumgefuchtelt wird, meist nicht losgehen.
Man teilt die Todesangst nicht und bleibt kühl.
Dieser rechnerischen Gleichung fehlt die drohend beängstigende „An¬
bekannte“. Eine Knalleffektdramatik ist das, der schließlich sogar der zündende
Funke mangelt. Sie explodiert nicht, sie verpufft.
Erträglicher als bei pfeudotragischen Motiven ist diese rechnerische Art
bei komischen. Darum kommt die letzte Nummer dieses Terzetts, „Auferstehung“,
in der Beurteilung noch am besten fort. Hier stellt sich eine sehr ergiebige
Kombination mit vielen lebensironischen Möglichkeiten verhältnismäßig zwang¬
los ein. Ein scheinbar rettungsloser, von allen aufgegebener Todeskandidat
erholt sich wieder, er kehrt gewissermaßen vom anderen Afer zurück. Da nun
sein Abschied bei guten Nachbarn und getreuen Freunden schon als unzweifel¬
hafte Tatsache angesehen und damit gerechnet wurde, will für den Wieder¬
auferstandenen nichts mehr recht in den alten Zusammenhängen stimmen, und
der Anschluß will sich nicht wieder finden lassen.
Das ist ein Thema von bitteren Moliéreschen Lebenshumoren und tiefer
wahrheitsvoller Ironie. Salten hat es aber nicht auf solchen Ton angelegt,
sondern rein schwankhaft geht er auf die Komik der verwickelten, durch diese
Wiederkehr unerwartet verschobenen Situationen aus.
Hier ist nun wieder alles rechnerische Schiebung. Die Geliebte des
Scheintoten hat sich mit dessen Freund getröstet. Die Liebste seiner Jugend,
auf die und auf deren Kind sich der Sterbende besann und die er sich antrauen
ließ des Kindes wegen, paßt als des Lebendigen Frau nicht mehr zu ihm
und er nicht zu ihr; das Kind fürchtet sich vor ihm und außerdem merkt er
bald, daß auf seiten dieser Frau natürlich die Erbspekulation und die Aus¬
sicht auf die wohlfundierte Witwenschaft entscheidend gewesen ist. Und als
gerecht Denkender muß er sich eingestehen, daß er, der sich nie um diese Ver¬
gangenheit gekümmert hat, gar kein Recht hat, Besseres und Herzlicheres zu
verlangen. Eins wird ihm jedenfalls klar, er ist in seine frühere Lebensform
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Kopf= und Herzensrechner
sucht, sich von ihm untersuchen läßt und sich dem überlegenen Genugtuungs¬
gefühl seiner Entscheidung aussetzt. Der Arzt, der dabei auch mehr nach dem
Gesichtspunkt der Salten=Dramaturgie als dem der menschlich=medizinischen
Sitte handelt, erklärt dem Patienten brüsk und mit Anfehlbarkeits-Miene
das Todesurteil. Er habe nur noch sechs Monate zu leben.
Dieses mühsame, mit Zwangs= und Hilfsschiebungen zuwege gebrachte
Rechnungsresultat wird nun so ausgenutzt, daß der Moriturus in verzweifelter
Laune und Erbitterung auf einen grausamen Einfall kommt. Er kündigt dem
Arzt an, daß er ihn in einer Viertelstunde erschießen werde, er wolle an seinem
Beispiele lernen, wie ein Mann gefaßt dem Tod ins Antlitz sehen kann.
Der Vorgang ist jetzt so, daß in diesem Gegenüber außerhalb der mensch¬
lichen Konvention allerdings die letzten Masken fallen. Der glatte, pharisäisch¬
selbstbewußte Schönredner wird, als er den Ernst merkt, von einem irrsinnigen
Entsetzenstaumel und wimmernder Todesangst gepackt, und wütiger Haß geifert
zwischen den beiden. Bis dann schließlich der Jüngere, der in Verachtung und
Ekel ein Genügen gefunden, den drohenden Revolver beiseite wirft.
„Fieberhafte Spannung“ war dabei wohl der theatralische Endzweck
Saltens, aber nicht einmal der wird erreicht. Die Situation übt auf den
wissenden Bühnenzuschauer keinen zwingenden Bann, weil er das allzu durch¬
sichtige, zweckpolitische Arrangement merkt, und weil er weiß, daß Theater¬
pistolen, mit denen so handgreiflich herumgefuchtelt wird, meist nicht losgehen.
Man teilt die Todesangst nicht und bleibt kühl.
Dieser rechnerischen Gleichung fehlt die drohend beängstigende „An¬
bekannte“. Eine Knalleffektdramatik ist das, der schließlich sogar der zündende
Funke mangelt. Sie explodiert nicht, sie verpufft.
Erträglicher als bei pfeudotragischen Motiven ist diese rechnerische Art
bei komischen. Darum kommt die letzte Nummer dieses Terzetts, „Auferstehung“,
in der Beurteilung noch am besten fort. Hier stellt sich eine sehr ergiebige
Kombination mit vielen lebensironischen Möglichkeiten verhältnismäßig zwang¬
los ein. Ein scheinbar rettungsloser, von allen aufgegebener Todeskandidat
erholt sich wieder, er kehrt gewissermaßen vom anderen Afer zurück. Da nun
sein Abschied bei guten Nachbarn und getreuen Freunden schon als unzweifel¬
hafte Tatsache angesehen und damit gerechnet wurde, will für den Wieder¬
auferstandenen nichts mehr recht in den alten Zusammenhängen stimmen, und
der Anschluß will sich nicht wieder finden lassen.
Das ist ein Thema von bitteren Moliéreschen Lebenshumoren und tiefer
wahrheitsvoller Ironie. Salten hat es aber nicht auf solchen Ton angelegt,
sondern rein schwankhaft geht er auf die Komik der verwickelten, durch diese
Wiederkehr unerwartet verschobenen Situationen aus.
Hier ist nun wieder alles rechnerische Schiebung. Die Geliebte des
Scheintoten hat sich mit dessen Freund getröstet. Die Liebste seiner Jugend,
auf die und auf deren Kind sich der Sterbende besann und die er sich antrauen
ließ des Kindes wegen, paßt als des Lebendigen Frau nicht mehr zu ihm
und er nicht zu ihr; das Kind fürchtet sich vor ihm und außerdem merkt er
bald, daß auf seiten dieser Frau natürlich die Erbspekulation und die Aus¬
sicht auf die wohlfundierte Witwenschaft entscheidend gewesen ist. Und als
gerecht Denkender muß er sich eingestehen, daß er, der sich nie um diese Ver¬
gangenheit gekümmert hat, gar kein Recht hat, Besseres und Herzlicheres zu
verlangen. Eins wird ihm jedenfalls klar, er ist in seine frühere Lebensform