VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 66

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2. Cuttings
gegriffen und mit bemerkenswerthem Geschick zu einem! malung ausgesehen haben. So ist es auch mit der Müs#
im antiken Drama. Wir wissen und fühlen, diese Worte
wirksamen Theaterstück verarbeitet. Wir erleben den letzten
mußten vom Tone getragen sein, aber Wesen und Forn##
Akt einer schauerlichen Raubmordgeschichte: das Ende des
kunserer heutigen Musik stimmen nicht zum Charakter dieser
von Gewissensqualen gefolterten, von schieksalstragischen Zu¬
Dramen. Probirt es ein Wagemuthiger trotzdem, so wirkt
fälligkeiten beinahe bis zum Selbstverrath getriebenen
der Versuch im besten Falle so, als hätte ein Besnard die
Mörders. Um diesen krassen Vorgang den Hörern ein¬
kapitolinische Venus bepinselt.
gänglicher, der Musik zugänglicher zu machen, sind die
Librettisten auf den schlauen Einfall gekommen, die ent¬
Die widersätzlichen Kräfte dieser getrennten Kunstwelten
scheidende, peinliche und aufregende Seene des Schuld¬
in einem Werke bewältigen und zu binden, nun war jeden¬
geständnisses in ein Traumbild zu fassen während dessen
falls Weingartner's Begabung nicht reich und kräftig genug.
Verlauf den schlafenden Mörder ein Schlaganfall dem
Trotzdem es ihm gelungen war, die alten Dramen mit Ge¬
irdischen Richter entzieht. Der Zuschauer wird also Zeuge
schick für seine Zwecke äußerlich zu verdichten, trotzdem er
eines inneren Erlebnisses, von dem die mitspielenden Figuren
nicht versäumt hatte, durch einige psychologische Umdeutungen
des Stückes nichts erfahren. Das mildert den Eindruck
seine Arbeit dem modernen Empfinden näher zu rücken:
des Widerwärtigen und ermöglicht den Verfassern einen
Ton und Weise für die alte Herventragödie fand sich nicht
versöhnlichen Schluß, wie ihn die Menge einer wahrhaftigen
auf seiner zart und schwach besaiteten Leyer. Selbst am
Lösung vorzieht, aber es hebt auch die Katharsis, die
Maß seiner Textbearbeitung erschien Weingartner's Musik
befreiende Wirkung eines echten, durchlebten Dramas auf.
klein, dünn und blutleer, und auf die Dauer eines vier¬
Sehr hübsch, wenn auch wesentlich nur die äußeren Vor¬
stündigen Theaterabends erwies sich das Mißverhältniß
gänge spiegelnd ist die Musik, die Karl Weis zu diesem
zwischen der Größe und Wucht des dramatischen Vorwurfs
„Volksstück“ geschrieben hat. Die Lieder und Tänze des
und der Schwäche des musikalischen Ausdrucks als uner¬
ersten Aktes zeugen von frischer, quellender Erfindungskraft
träglich. Mit dem Pusterohr kann man nicht auf Löwen
und natürlichem Empfinden, und in der großen Monolog¬
jagen!
die beklommene Gemüthsstimmung des
seene, die uns
Neben diesem Grundgebresten kommen andere Schwächen
Schuldigen vor seiner letzten, schrecklichen Traumnacht
der Weingartner'schen Musik als namentlich der Mangel an
schildert, ist auch das Vermögen erkennbar, den feineren,
Eigenart nicht so sehr in Betracht, wie denn überhaupt
leisen Wandlungen des psychologischen Vorganges mit dem
gelegentlich der allzu einseitigen Ueberschätzung der subjektiv¬
musikalischen Ausdruck zu folgen. Weis, der auch sehr ge¬
persönlichen Eigenschaften in der Musik die Thatsache ent¬
wandt und geschmackvoll zu instrumentiren versteht, be¬
gegenzuhalten wäre, daß unter Umständen auch Werke
rechtigt zu den besten Erwartungen für unsere Opernbühne;
eklektischen Charakters wie z. B. Nicolai's „Lustige Weiber
seine Volksoper ist aller nöthigen Vorbehalte ungeachtet
von Windsor“ in Leben und Geschichte eine ehrenvolle Roll¬
die erfreulichste Neuheit, die die böse letzte Opernsaison uns
spielen können. Ebenso wenig aber sind leider die nicht
brachte.
geringen Vorzüge der Orestespartitur im Stande, über den
Kann man dies dem jungen Musiker aus Böhmen
Kardinalfehler hinwegzutäuschen. Der Gerechtigkeit halber
zugestehen, so wird man Felix Weingartner die An¬
aber soll hier ausdrücklich hervorgehoben werden, daß Wein¬
erkennung nicht versagen dürfen, daß er mit seinem „Orestes“
gartner die schwierige Frage des Kräfteverhältnisses zwischen
das kühnste und höchste Wagestück unternommen hat, das
Orchester= und Vokalpart geradezu meisterlich gelöst hat
auf der deutschen Opernbühne seit manchen Jahren erlebt
und daß er in der Kunst der instrumentalen Farbenmischung
wurde. Mit gutem Grunde sah man denn auch der ersten
wundervolle Wirkungen zu erzeugen verstand. Wer die
Aufführung dieses neuesten Opernwerkes des vielgewandten
Berliner Opernnovitäten dieses Winters erlebt hat, weiß,
und viel gewandelten Künstlers voller Spannung entgegen,
daß das kein Kleines ist.
und sehr gute Gründe hatte auch die zahlreiche Hörerschaft,
Die Musikfreunde der Reichshauptstadt sind daher der
den interessanten Versuch einer musikdramatischen Wieder¬
Stuttgarter Hofoper, die das schwierige Werk in einer
geburt des antiken Dramas mit entschiedenem, lautem Beifall
lobenswerthen Aufführung zur Kenntniß brachte, auch für
zu begrüßen. In einer Zeit, da selbst hervorragende Künstler
diese Gabe durchaus zu Dank verpflichtet. So schöner und
den Lockungen der gemeinen Gassenmuse nicht widerstehen
tapferer Schwabenstreiche wird man sich in der Opernwelt
so hohes und reines Streben, wie das in der
können,
immer gern erinnern.
Orestestrilogie bekundete, allein schon Ruhmes werth, und
Bertin ist ohne dies dem feinen Musiker Weingartner so¬
einrich-Melti#
viel Dankes schuldig, daß man den rauschenden Erfolg als
Zoll edler Gefühle würdigen konnte, auch wenn einem schwer
wurde, ihn aus Werth und Wirkung der Neuheit zu be¬
greifen.
Unmöglich muß das aber jedem geworden sein, der
unbefangen seinen Blick bloß auf das Werk, seine Absicht
und seine Ausführung gerichtet hielt. So ging es auch mir,
und mit aufrichtigem Bedauern bekenne ich, den kühnen und
Theater.
geistreichen Versuch für mißlungen erachten zu müssen. Die
Neues Theater: „Ledige Leun“ Sittenkomödie in 3 Akten von Felix Dörmann.
Ursache davon suche ich aber nicht nur in der Begabung
Weingartner's, sondern ebenso sehr in dem unlösbaren
Arthur Schnitzler hat mit zweien seiner Werke in seinet
Widerspruch zwischen der modernen Musik und dem antiken
schönen Taterstadt Wien Schule gemacht, mit der Erzählung
Drama. Stellen sich schon der Einbürgerung der Oresteia
„Sterben“, dann mit seinem „Anatol“, oder, wenn man will,
des Aeschylos auf unsern Bühnen trotz vorzüglicher Ueber¬
mit der „Liebelei.“ Es gibt heute eine ganze Dichter¬
setzung und hervorragender Regieleistungen unüberwindliche
generation in Wien (ihre Büchelchen erscheinen zumeist im
ethische und bildungsgeschichtliche Hindernisse entgegen, so
„Wiener Verlag“) die dauernd lieben und sterben. Wie ihre!
erscheint eine Verschmelzung dieser alten groß= und grob¬
Vettern die Afra. Sie befinden sich auf bestem Wege, die
zügigen Dichtungen mit unserer feinnervigen, neuen Musik
Unsterblichkeit sich zu ersterben.
vollends ein Unding. Grundverschieden, müssen die Bildungs¬
In diesem Korps der Sterbend=Liebenden ist Felix!
kräfte eines solchen Kunstwerks nach geradezu entgegen¬
Dörmann
sagen der Fuchsmajor. Er kann
gesetzten Seiten auseinander treten, die einen nach der Höhe,
alles und bringt's den Jüngeren bei. Er gibt in seinen
die andern nach der Tiefe. Man lehrt uns heute, daß die
Versen und Dramen und Versdramen gleichsam die
Alten ihre Bildwerke bemalt haben, doch kann man sich nur
Methode von dem, was Schnitzler aus innern Auregungen
schwer eine richtige Vorstellung davon machen, wie etwa die
milesische Venns oder der vatikanische Apoll in solcher Be= heraus sich selbst geschaffen. Dabei kann er etwas, kann

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