VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 67


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2. Cuttings
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Die Nation.
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Grund solcher geschmackvollen Phantasieorg#e ist aber doch
sogar recht viel. Nur muß ihm alles von außen kommen.
wohl wo anders zu suchen. Dörmann hatte die Liebe der
Sein Inneres gehorcht, aber es bleibt ohne äußern Weckruf
Beiden so unsäglich seriös genommen, daß ihm die
stumm. Mit jedem neuen Werk, das man von ihm kennen
Desillusionirung als Abschluß nicht anstand. Sie wider¬
lernt, verliert man den Begriff seiner Persönlichkeit mehr.
strebte seinem zärtlichen Gemüth. Zum herben, trennenden
Wenn er einmal gestorben, wird man von ihm sagen: er
Schnitte fehlte ihm der Muth. So wurde er zum galanten
war die Jung=Wiener „Methode“.
Gelegenheitsmacher seiner eigenen Gestalten. Seine Ge¬
In den „Ledigen Leuten“ gibt Dörmann zunächst ganz
schöpfe trieben unwürdiges Spiel mit ihm, und er war's zu¬
naturalistisch eine breite, sorgfältige Milieuschilderung. Die
Oder vielmehr:
frieden. Die ich rief, die Geister
Mutter dreier Mädchen macht Haus. Sie lebt von den
Die Schnitzler rief, die Geister, ward Dörmann nun
Erträgnissen der Liebschaften ihrer Töchter, verkuppelt sie
nicht los.
gelegentlich, sitzt mit den Liebhabern zu Tisch und läßt sich
Die Aufführung des Neuen Theaters war recht vor¬
von ihnen mit ausführen. Falsche Sentimentalität, Gemein¬
trefflich. Ueber drei der Darsteller verlohnt es sich ein
heit, Brutalität und Gewissenlosigkeit spielen da in den
Wort zu sagen. Tiny Senders a. G. gab das Dienst¬
bekannten Farbenmischungen durcheinander. Hätte Schnitzler
mädchen der verkommenen Familie. Sie stattete es äußer¬
dies Milien gezeichnet, er hätte die eigenartige Stimmung
lich vortrefflich aus. Ganz überzeugende Schlumpsigkeit,
festgehalten und sich damit begnügt. Davon ist bei
blondes Zottelhaar, dazu ein tiefer Baß. Sie war
Dörmann natürlich nicht die Rede. Ganz naturalistisch
komisch, wie auch Herr Giampietro amüsirte, dessen
klebt er am schweren Stoff. Er gibt eine solche Stoff¬
Clownverrenkungen ihres eigenen Stils sich rühmen
fülle, zerrt so gründlich in alle Gemeinheiten hinein, daß
dürfen. Doch war bei Beiben die darstellerische Wirkung
der Zuhörer in der That das Gefühl bekommt: so muß es
äußerer Art; Herr Korff vom Wiener Burgtheater ließ.
aussehen in der Familie. So muß es wirklich, höchst wirk¬
durch die korrekte Charakteristik seelisches Empfinden durch¬
lich da ausschaun. Das zu erreichen, ist immerhin etwas,
schimmern. Er gab den reinen Thoren ohne alle Zimper¬
und dazu ist Dörmann das Geschick gegeben. Er vermag
lichkeit sehr keusch. Er individualisirte. Man sah es der
auch ganz glücklich die verschiedenen Charaktere zu kenn¬
Bühnengestalt, die er schuf, an, daß sie eine treu behütete¬
zeichnen, die unter die Stichworte „brutal“, „geziert sentimental“
Jugend hinter sich und ein behäbig freundliches Alter vor
„besserer Instinkte fähig“ fallen, er stellt sie zu wirksamen
sich haben dürfte. Diese Gestalt hätte ins Leben hinaus¬
Kontrasten zusammen. Ich gehe weiter und sage, eine ganze
treten können, ohne einer besonderen Entschminkung zu be¬
der Naturalismus ist ja von
Anzahl lustiger Seenen
nöthigen.
Haus aus der Komik wirksamster Vasall — ist sehr gelungen;
Das gute Spiel und die Pikanterien verhalfen den
man hat seine Freude daran, man lebt sie mit. Die andern
„Ledigen Leuten“ zu starkem Erfolg. Doch schied man von
Scenen, in denen eben nur Brutalität und Gemeinheit sich
dieser Dörmann'schen Komödie mit dem erneuten Bewußt¬
breit machen, sind dafür desto ennuhanter. In Summa: Diese
sein, daß Schnitzler ein guter und ein echter Künstler ist.
breite naturalistische Milieuschilderung ist uns eine Mode
von gestern. Dörmann mag zu seiner Entschuldigung an¬
Ernst Heilborn.
führen, daß auch sein Stück bereits drei oder vier Jahre
alt ist; gewiß. Doch fügen wir hinzu, es war nie neu.
Nie neu, weil ihm der Persönlichkeitszug fehlt. Bis
auf die lebendige Eigenart ist alles schon mal da gewesen.
Und wie das immer geht: Dörmann ist da am un¬
Rudolf Baum.
glücklichsten, wo er ausgesucht originell sein möchte.
In die verkommene Familie wird von einem Freunde,
Altersidyll eines Achtundvierzigers.
der seine Abdankung als Liebhaber geben will, ein junger
(Schluß.)
Mensch eingeführt, der rein empfindet, der von sich sagen:
Kurz vor einer wichtigsten Wendung meines Lebens¬
darf, daß er noch nie ein Mädel geküßt habe. In die
war ich im Sommer 1000 zum vierten und letzten Mallin
jüngste Tochter verliebt er sich. Seine Unberührtheit reizt
Halle eingetroffen, um im Frieden des Pähne'schen Gartens
ihre Frühverderbtheit, sie ist aber auch besseren Empfindens
den meinigen wieder zu finden. — Nach zwei ruhesam
noch fähig und gewinnt ihn lieb. An einen alten Mann
schönen Wochen standen wir eines Morgens früh in
verkuppelt, ekelt sie die Gemeinheit ihrer Lebensführung an.
dämmernder Kälte am Bahnhof. Ich warf, wie immer beim
Und er, ein frühlingsseliger, reiner Thor, erbebt unter ihren
Abschied, mit heiterer Sicherheit Worte von Wiedersehen hin,
Küssen; träumt sich ihr Bild wirklichkeitsfremd, in sprossender
denen er mit zweifelndem Lächeln lauschte. Auf einmal
Jungfräulichkeit zurecht. Er führt sie als seine Braut zu
aber wurden wir ganz still. Wie die liebe Gestalt da in
seiner Mutter.
der weiten Halle inmitten all des Getriebes so einsam vor
Die Desillusionirung liegt auf der Linie der Kömödien¬
meinem Wagen stand, schien sie plötzlich immer feiner und
entwicklung, und sie bleibt nicht aus. Aber Dörmann hat
gebrechlicher zu werden, gleichsam vor mir dahin zu schwinden.
eine Strecke über sein Ziel hinausgeführt. Der holde
Ich hätte sie in beide Arme nehmen und festhalten mögen!
Brautstand ist ins Nichts zerronnen, das Mädchen kann dem
Da setzte sich schon der Zug in Bewegung, vorwärts,
alten Mann nicht entsagen, denn er zahlt gut, also: sie wird
vorwärts, unaufhaltsam — hinaus unter den weiten blassen
dem einen und dem andern angehören. So etwa, daß der
Himmel. War es Abend= oder Morgenroth, das ihn dort
alte Herr um 6 Uhr bei ihr Befriedigung seiner Wünsche
mit hellen, ahnungsvollen Streifen färbte?
findet, und dann um 7 Uhr der liebeselige Jüngling die
„Es scheint mir als der schönste Abschluß unserer
bräutliche Kammer, zu seinem Empfang geschmückt, betreten
Freundschaft, daß ich diese Wendung Ihres Lebens noch
darf. Diese Vereinbarung wird in Gegenwart der Mutter
erfahren durfte, ehe das Meinige zu Ende geht,“ konnte mir
des jungen Mannes getroffen, die das junge Mädchen noch
Haym kurz nach meiner Heimkehr aus Halle glückwünschend
eben vertrauensvoll als Tochter in ihre Arme geschlossen.
schreiben. Ging es wirklich zu Ende? Ich mochte es nicht
Diese Vereinbarung sagt dem getäuschten Liebenden zu.
glauben, nur hie und da hatten mich etwa leise Klagen
Ich enthalte mich jeder Kritik, denn nur die Psycho¬
erschreckt: „Ein alter Professor ist wie eine Nachtigall nach
logie des Autors soll hier interessiren. Beiläufig nur: auch
Johanni. Der laute und lange Schlag, der ihr einst die
wo Schnitzler gesagteste Probleme behandelt, bleibt er
Kehle füllte, verliert sich mehr und mehr in einzelne abge¬
moralisch, denn er ist Künstlei. Anders der methodische
rissene Töne, wie in verlöschende Erinnerungen an die Zeit
Adept. Es ist wohl außer Frage gestellt, daß Dörmann
des Mais.“ — Wehmüthig schalkhaft belächelte er seine
sich selbst sehr groß, sehr revolutionär vorgekommen ist, als
immer noch weitreichenden Pläne: „Ich treibe jetzt Italienisch
er seiner Komödie diese Schlußwendung gab. Der Persön¬
für alle Fälle — es könnte ja sein, daß im Himmel die
lichkeitslose wird nicht älter und nicht reifer. Der innere