VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 68

er nahnt ein lieter Abgruno: meit bennen
scheint ein anderer Berg zu liegen, man kann durch den Nebel
nichts erkennen; das Auge fühlt nur unbestimmt die Ecken und
Kanten des Felsens, und weiter in der Ferne scheint es, als
ob wieder ein Berg steil gradauf stiege.
„Spring hinüber, mein Kleinev!“ ruft die Riesin
höhnisch, „hopla! immer springen! Aber daß du mir nicht zu
kurz springst und fällst! Alleeh, hopla.“ Die Peitsche knallt
und die Unholdin schnalzt dazu mit der Zunge.
Der Zwerg sieht sich schen nach ihr um, da begegnet sein
Blick ihrem heimtückisch funkelnden, lauernden Auge. Er fühlt:
wenn er über die Kluft mit all seiner Kraft hinüberspringt, so
ist er um nichts gebessert; seine Peinigerin würde mühelos
nachspringen und drüben begänne dann die Qual aufs neue.
Onein! Er will nicht! Er will die Riesin nicht mehr sehen,
n — 6..
will ihren los und ledig sein
um jeden Preis.
Abermals blickt er sich scheu um. Diesmal sieht sie ihn nicht
an; ihr ekelhafter grauer Blick ist teilnahmslos geradeaus ge¬
richtet nach den unheilbrütenden Fernen.
Sie scheint nicht zu sehen, daß der Zwerg langsam an den
Rand des Abgrundes vorkriecht.
Da! der Knirps springt hinab in die tödliche Tiefe.
Im Augenblick kehrt der Blick der Furchtbaren aus den
grauen Fernen zurück. Sie weiß, was geschehen ist, ohne es
gesehen zu haben. Und sie stößt ein wahnwitziges Jauchzen
des Triumphes aus und schlägt mit der Peitsche kreuz und
quer durch die Luft, daß die Nebel zerflattern und das
Sonnenlicht durchdringt. Und im Nu ist alles in Gold und
Glanz ertrunken.
Ueber dem Abgrund drüben liegt gleißendes, grünes,
prangendes Land. Bunte Blumen sind den Teppich für die
Füße des Wanderers, rauschende Baumwipfel sind Kühlung
und Schatten seines Hauptes; silberne Bronnen erquicken die
Glieder und tausendstimmige Melodien füllen das Ohr.
„Schau dorthin!“ ruft die Riesin, „siehe dieses Land! Das
war dir geschenkt!“ Und noch ehe der Zwerg in die Tiefe
stürzt, erhascht er mit einem armseligen kurzen Blick das ver¬
lorene Paradies. Nur das Quentchen eines Zeitteils kann er
die Schönheit sehen und dann rast er hinab in die schauer¬
liche Tiefe.
Ueber ihm aber, über den Abgrund gebeugt steht das
Scheusal und ruft gifttrunken: „Du Narr, du Feigling er¬
bärmlicher! Wärest du hinübergesprungen, so hätte ich dir
dienen müssen, wie du mir gedient hast; dein Sklave hätte ich
sein müssen, wie du hier der meine warst. Du Narr —
Narr!“
Aus der Tiefe dringtkein Laut mehr herauf, alles
ist still.
Die Here wendet sich langsam und schreitet lächelnd den
Berg hinab, um neue Opfer hinaufzutreiben. So gehr es
fork — in alle Ewigkeit.

02
Nachbruck verboten.
Arthur Schnitzler.
Von Dr. Hans Landsberg (Berlin).
Wenn wir die österreichische moderne
Poesie in ihrer Gesamtheit ins Auge fassen, so ist es nicht
schwer, einen bestimmten, ständig wiederkehrenden Typus fest¬
zustellen. Hier wurzelt der Dichter durchaus in einer tradis
tionellen Kultur, die er fortzupflanzen bestrebt ist und seine
Vorzüge und Schwächen hängen aufs engste dalnit zusammen,
daß er ein Enkel ist. Nie und nirgenos der Ahnherr einer
revolutionären Kunst, die dem Beschauer neue Gesetze des
Denkens und Fühlens vermittelt, kein Prophet, dessen Schaffen
nur das eigenste Abbild seines persönlichen Strebens, seiner
individuellen Entwicklung darstellt. Vielmehr ist diese Dichtung
bestrebt, das Zeitbild der Kultur impressionistisch festzustellen,
ein Stück Leben in einer zarten Idealisierung wiederzuspiegeln.
Anders gesagt: Uns tritt nicht eine eigene, selbständig er¬
worbene Welt gegenüber, wie etwa im Drama eines Kleist,
Hebbel, Ibsen. Wir haben es nicht mit freien Schöpfungen zu
tun, die gemeinsam in dem Boden der dichterischen Welt¬
anschauung wurzeln. Vielmehr verhält sich diese österreichische
Dichtung durchaus rezeptiv zu dem Weltbilde, das sie in Ev¬
scheinung treten läßt und der individualistische Einschlag der
einzelnen dichterischen Persönlichkeit beschränkt sich auf das,
was wir gern als „künstlerische Note“ bezeichnen. In dieser
Art und Kunst ist etwas spezifisch Weibliches, im Gegensatz zu
der norddeutschen Männlichkeit: Eine starke Lebenslust, die
durch melancholische Resignation einen wirksamen Kontrast
erhält und eine auffallende Energielosigkeit, welche das
dunkle Walten des Schicksals bedingungslos als eine geheim¬
nisvolle höhere Macht anerkennt. In der Tat ist diese Kunstf
ganz femininer Natur. Ihr Ideal ist, feier unmerklich im
Leben aufzugehen, das Dasein mit seinen letzten Nuancen undi
Zufälligkeiten abzuspiegeln, ihm nirgends Gewalt anzutun
durch jene kräftige Gestaltung, die man als Stil, als Ausflu߬
einer bestimmt organifierten Persönlichkeit entwickelt. Schein¬
e
Diese Weltauffassung kehrt bei Schnitzler unablässig
wieder. Aus dem Zusammenschluß von Spiel und Leben
entsteht die wirksame Tragik des „Grünen Kaladu“, in dem
die Schauspieler so lange Revolution spielen, bis der Sturm
der Empörung wirklich ausbricht; und in den jüngsten
Dramen des Dichters, der „Einsame Weg“ mit eingeschlossen,
wird das Problem, ob nicht im Grunde der Traum des
Menschen sein eigentliches Wachsein bedeute, ob das vergangene
nicht eine zehnmal stärkere Kraft habe, als das gegenwärtige
Leben, dessen Sinn ihm erst die Zukunft erschließen soll, immer
von neuem ventiliert. Das Eigentümliche dieser Dichtung
besteht darin, daß die dargestellten Menschen selbst einen un¬
widerstehlichen Hang haben, über ihr Lebensschicksal zu
philosophieren. Ohne die Fähigkeit, das Leben als eine Gabe
des Schicksals, gleichviel ob gut ob böse, naiv und natürlich
hinzunehmen, quälen sie sich damit ab, die gegenwärtige
Situation in der Beleuchtung zukünftiger Umstände voraus¬
zunehmen. Es ist, als ob auf ihnen ein Vorgefühl der späteren
Gestaltung der Dinge laste und somit nicht die rechte Lust des
Lebens aufkommen lasse. Imn jüngsten Drama Schnitzlers heißt
es: „Gegenwart . . . was heißt das eigentlich? Stehen wir
denn mit dem Augenblick Brust an Brust, wie mit einem
Freund, den wir umarmen, — oder mit einem Feind, der
uns bedrängt? Ist das Wort, das eben verklang, nicht schon
Erinnerung? Der Ton, mit dem eine Melodie begann, nicht
Erinnerung, ehe das Lied geendet?“
Diese Art der Betrachtung steht also allem Gegen¬
wärtigen mit jener Skepfis gegenüber, die im Leben der gleich¬
zeitige Ausblick und Rückblick auf Zukunft und Vergangenheit
verleiht, und hierin liegt ein Widerspruch gegen das tiefste
Gesetz des Dramas, das durchaus auf der wirksamen Gegen¬
wart beruht. Hier ist der Dichter kritisch gegen seine eigenen
Menschen und Meinungen, und so gelingt es ihm nur selten,
uns dauernd zu erschüttern. Wie erklärt sich nun diese merk¬
würdige Kunstauffassung?
Die österreichische Dichtung wurzelt durchaus in der
Bühnenkunst. In dem Poeten streitet der Dichter mit dem
Schauspieler, die im Grunde das gegensätzliche Ziel verfolgen,
die Wirklichkeit mit einem schöneren Schein zu umhüllen und
dem Schein Wirklichkeit zu geben. Der überträgt ein Stück
Leben auf die Bühne, und der erklärt seine Bühne für das
Schauspielhaus des Lebens. Und um die Verwirrung noch zu
erhöhen, stellt sich als Dritter der Philosoph ein, der über der
Situation stehend, beiden Streitenden Unrecht gibt, der da
meint, das Leben gehe unbeirrt seinen Gang, gleichviel ob wir
es als Wahrheit oder als Spiel betrachten.
Jedenfalls ist das Charakleristische dieser Kunst der Un¬
glaube an etwas Positives, an ein objektiv Wahres auch nur
im Rahmen der dargestellten Dichtung. Und so-hat derL##ter¬
kein anderes Mittel, Menschen und Dinge glaubhaft abzu¬
spiegeln, als indem er ihr seelisches Milien charakterisiert.
Nicht der Charakter, das Lebensziel, die Leidenschaft des
Menschen ist für ihn das Wesentliche, sondern seine Stimmung.
Schnitzler versucht im Drama wie in der Novelle das Leben
so wiederzugeben, wie es sich einem ganz unbefangenen,
psychologisch geschulten Beobachter, der in den Tiefen der
menschen Seele zu lesen versteht, darstellt. Er hütet sich ängst¬
lich vor jeder gewaltsamen Umformung und liebt es, die
Tragik aus dem harmlosen Dialog und den alltäglichen Ge¬
wohnheiten des Daseins aufsteigen zu lassen. Das gibt seinen
Schöpsungen eine unnachahmliche Weichheit und Lebens¬
ähnlichkeit. Hier sind keine großen Ereignisse und keine Haupt¬
personen, vielmehr herrscht das Prinzip der Gleichwertigkeit
alles menschlichen Daseins ...
Im Jahre 1862 geboren, ist Schnitzler ziemlich rasch
über das „Süße Mädel“ und den dazu gehörigen Elegant, der
im „Anatol“ seine Triumphe feiert, hinausgekommen, nachdem
er es verstanden hatte, in diesem Liebesgetändel die Quelle
einer echten Tragödie zu entdecken. Noch heute ist seine
„Liebelei“, die Tragödie des Weibes, das sich entehrt fühlt,
weil der Geliebte ihre Hingebung nur als eine Episode be¬
trachtet, ihr nicht den ganzen Menschen entgegenbringt, das
beste Werk des Dichters, wenngleich er geistig darüber längst
hinausgekommen ist. Späterhin hat er mit Vorliebe das
Thema des Ehebruchs variiert, sah er doch in der verbotenen
Leidenschaft des Weibes die einzige Möglichkeit, seine Rätsel zu
lösen. Sein letztes größeres Werk „Der Schleier der Beatriee“
litt unter der Zersplitterung der Motive, unter der Ueberfülle!
von psychologischem Detail. Nur die Zukunft kann uns zeigen,
ob es dem Dichter gelingt das Drama großen Stils zu
schaffen, dem er in diesem Renaissancestück zustrebt.
S