VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 69

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2. Cuttings
Nachdruck verboten.
Schicksal.
Phantasie von Arno Hach.
Ein freud= und sonnenloser Weg. Er führt steil bergan,
so steil, daß kaum eines Menschen Fuß ihn beschreiten kann.
Von hohen Felsen ist er eingefaßt, nur oben, meist oben ist
ein schmaler hellblauer Strich, der Himmel. Die turmhohen
Felsen drücken auf den Wanderer, der in dieser Schlucht seinen
Weg gehen muß; es ist, als rückten sie enger zusammen, immer
enger, so daß kein Spalt mehr bleibt, um durchzukommen, als
erstickten und erdrückten und zermalmten sie den Menschen, der
diesen Pfad geht. Und so feucht und stickig ist die Luft, wie
für ekles Getier zum Leben geschaffen: für Molche und
Drachen und Schlangengewürm.
Die entsetzliche Riesin mit dem dürren Leib und dem
Raubvogelkopf mit den stechenden, schillernden, lähmenden
Blicken hebt die lange Hetzpeitsche in knochiger Faust empor
und schnalzt mit ihr. Alleeh, hopla!
Das winzige Wesen zu ihren Füßen, das unter seiner
Bürde zusammengebrochen ist, rafft sich auf und versucht mit
hastigen, zitternden Schritten den Berg hinaufzuklimmen.
Nach ein paar Schritten bleibt der Winzige stehen und keucht,
als ob ihm innerlich alles zersprungen wäre. Die Riesin hat
einen Augenblick ihre Lider geschlossen; sie stellt sich, als ob
sie den Zwerg nicht sehe; geschlossenen Auges schreitet sie für¬
bas. Schon hofft der Zwerg, sie werde über ihn wegschreiten,
nicht bemerken, daß er raste, da reißt sie mit höhnischem Schrei
Die furchtbaren Augen weit auf und die Peitsche trifft in
blutigem Striemen den Zwerg. Alleeh, hopla! Und weiter
Reucht der Aermste.
Immer wiederholt sich das. Wenn er rasten will, schlägt
Tihn die Riesin brutal und roh überall hin; über Rücken und
Leib, Gesicht und Arme zieht die Peitsche ihre blutigen Furchen.
Manchmal bleibt die Riesin stehen. Der Zwerg denkt:
Klleicht hat sie deiner vergessen, und eilt vorwärts, so rasch
ihn seine schwachen Füße tragen. Plötzlich stolpert er und fällt
in ein mit eklem Schlamm gefülltes Loch mitten im Wege;
gleich darauf hört er das häßliche, höhnische, gräßliche Lachen
der Riesin, die ihn schlägt, bis er mit seiner Last aus dem
Schlammpfuhl herausgeklettert ist und seinen Weg fortsetzt.
Zuweilen auch läßt sie ihn sich verstecken und stellt sich so,
als ob sie ihn nicht sähe. Und wenn er dann hofft, sie habe
seine Spur verloren und hoffnungslebend aus der Felsspalte
hervorlugt, denn schreit sie laut auf vor wahnwitziger Freude
und schlägt ihn, daß Blut fließt.
Allmählich ist der Winzige dem Gipfel des Berges nahe
gekommen. Die Felsenwände, die den Weg bedrücken und
einengen sind niedriger und niedriger geworden, der blaue
Strich da oben breiter und intensiver. Endlich stehen sie oben
auf der Kuppe des Berges.
Nebel, grauer, dicker, dunstiger, triefender Nebel hüllt
alles ein. Die Luft ist stickig und feucht, genau so, wie die in
der Schlucht, keine freie, klare, göttliche Himmelsluft.
Vor dem Zwerg gähnt ein tiefer Abgrund; weit drüben
scheint ein anderer Berg zu liegen, man kann durch den Nebel
nichts erkennen; das Auge fühlt nur unbestimmt die Ecken und
Kanten des Felsens, und weiter in der Ferne scheint es, als
ob wieder ein Berg steil gradauf stiege.
„Spring hinüber, mein Kleinev!“ ruft die Riesin
höhnisch, „hopla! immer springen! Aber daß du mir nicht zu
kurz springst und fällst! Alleeh, hopla.“ Die Peitsche knallt
und die Unholdin schnalzt dazu mit der Zunge.
Der Zwerg sieht sich schen nach ihr um, da begegnet sein
Blick ihrem heimtückisch funkelnden, lauernden Auge. Er fühlt:
wenn er über die Kluft mit all seiner Kraft hinüberspringt, so
ist er um nichts gebessert; seine Peinigerin würde mühelos
nachspringen und drüben begänne dann die Qual aufs neue.
Onein! Er will nicht! Er will die Riesin nicht mehr sehen,
er will ihren los und ledig sein — — um jeden Preis.
Abermals blickt er sich schen um. Diesmal sieht sie ihn nicht
an; ihr ekelhafter grauer Blick ist teilnahmslos geradeaus ge¬
richtet nach den unheilbrütenden Fernen.
Sie scheint nicht zu sehen, daß der Zwerg langsam an den
Rand des Abgrundes vorkriecht.
Da! der Kuirps springt hinab in die tödliche Tiefe.
Im Augenblick kehrt der Blick der Furchtbaren aus den
grauen Fernen zurück. Sie weiß, was geschehen ist, ohne es
gesehen zu haben. Und sie stößt ein wahnwitziges Jauchzen
des Triumphes aus und schlägt mit der Peitsche kreuz und
quer durch die Luft, daß die Nebel zerflattern und das
alles in Gold und
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bar freilich ist diese Kunst der spezifisch=norddeutschen an Stil
überlegen. Aber wer schärfer hinsieht, entdeckt, daß es sich
doch zumeist um die Ausdrucksform einer verflossenen, klassi¬
zistischen Kultur handelt, die das tausendfältig zersplitterte
Seelenleben des modernen Menschen nur widerwillig auf¬
nimmt. So sehr ist diese Kunst von der Bildung einer schwer
lastenden Vergangenheit durchtränkt, daß sie nur selten zum
eigentlichen Wesen der Dinge durchdringt und sich vielmehr
mit einer vollströmenden, flüssigen und bilderreichen Sprache
begnügt, wo es gilt seelische Wandlungen klarzulegen, für ein
Gefühl die geeignete plastische Situation zu schaffen, aus der
es gleichsam mit beredter Stummheit hervorleuchtet. Diese
Dichtung ist mehr schön als charakteristisch; sie hat unendlich
viel Farbentöne auf ihrer Palette, nur fehlt es ihr an scharfen
und eindringlichen Konturen, ja man könnte nachweisen, daß!
ihr: Menschen sich nur als Relief, nicht als freistehende pla¬
stische Figuren von der Umgebung abheben.
Zwei Dichter stehen an der Spitze des modernen litera¬
rischen Oesterreichs, beide in Deutschland wohlbekannt und
von dauernden Erfolgen begleitet: Hugo von Hof¬
mannsthal und Arthur Schnitzler. Hofmanns¬
thal repräsentiert den Eklektiker im Stile d'Annunzios. Ein
feinsinniger Poet, formvollendet bis in die Fingerspitzen, sen¬
sibel, weich, von frauenhafter Anmut. Gesättigt mit den
Blüten heimischer und fremder Kultur, die ihn zum hervor¬
ragendsten Vertreter des deutschen Aesthetizismus gemacht hat,
zu einem Geistesverwandten der Huysmanns, Wilde und eben
d'Annunzio. Schnitzler ähnelt ihm in mancher Hinsicht, nur
lebt in diesem Dichter ein Geist der Opposition, eine Fähigkeit
des gesunden realistischen Anschauens, der die angeborene
Romantik bekämpft. Es ist kein Zufall, daß eine ganze Reihe
der kleineren Dramen Schnitzlers sich gegen den Literaturgeist
seiner Zeit und seines Landes wendet. Oesterreichs Dichtung
wurzelt in einem gewissen Literatentum, das sie gegen die
realistische Darstellung des „Lebens mit voreingenommener
Befangenheit erfüllt, und wenn sich hier die Revolution der
Modernen auch ungleich schwächer bekundete als bei uns, so
verstand sie doch, daß eine Literatur, die auf einem längst
veränderten Sehen und Fühlen beruht, nicht gut die Lehr¬
meisterin einer neuen Zunft sein kann.
Andererseits ist die Dichtung Schnitzlers aufs innerste mit
der Romantik verwandt. Gleich ihr sieht sie das Leben als ein?
Spiel an, in dem wir Komödianten und Zuschauer zugleich
sind, verwischt sie allzugern die flüchtigen Grenzen zwischen
Leben und Traum, unlebendiger Gegenwart und daseinsvoller
Erinnerung. So heißt es im „Paracelsus“ Schnitzlers:
„Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben,
Und schien es noch so groß und tief zu sein!
Mit wilden Söldnerschaaren spielt der Eine,
Ein And'rer spielt mit tollen Abergläubischen.
Vielleicht mit Sonnen, Sternen irgend wer, —
Mit Menschenseelen spiele ich, Ein Sinn
Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht.
Es fließen ineinander Traum und Wachen,
Wahrheit und Lüge, Sicherheit ist nirgends.
Wir wissen nichts von Andern, nichts von uns,
Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.
Diese Weltauffassung kehrt bei Schnitzler unablässig
wieder. Aus dem Zusammenschluß von Spiel und Leben
entsteht die wirksame Tragik des „Grünen Kakadu“, in dem
die Schauspieler so lange Revolution spielen, bis der Sturm
der Empörung wirklich ausbricht; und in den jüngsten
Dramen des Dichters, der „Einsame Weg“ mit eingeschlossen,
wird das Problem, ob nicht im Grunde der Traum des
Menschen sein eigentliches Wachsein bedeute, ob das vergangene
nicht eine zehnmal stärkere Kraft habe, als das gegenwärtige
Leben, dessen Sinn ihm erst die Zukunft erschließen soll, immer
von neuem ventiliert. Das Eigentümliche dieser Dichtung
besteht darin, daß die dargestellten Menschen selbst einen un¬
widerstehlichen Hang haben, über ihr Lebensschicksal zu
philosophieren. Ohne die Fähigkeit, das Leben als eine Gabe
des Schicksals, gleichviel ob gut ob böse, naiv und natürlich
hinzunehmen, quälen sie sich damit ab, die gegenwärtige
Situation in der Beleuchtung zukünftiger Umstände voraus¬
zunehmen. Es ist, als ob auf ihnen ein Vorgefühl der späteren
Gestaitung der Dinge laste und somit nicht die rechte Lust des
Lebens aufkommen lasse. Im jüngsten Drama Schnitzlers heißt
es: „Gegenwart ... was heißt das eigentlich? Stehen wir
denn mit dem Augenblick Brust an Brust, wie mit einem
Freund, den wir umarmen, — oder mit einem Feind, der
uns bedrängt? Ist das Wort, das eben verklang, nicht schon
Erinnerung? Der Ton, mit dem eine Melodie begann, nicht
Erinnerung, ehe das Lied geendet?“
Diese Art der Betrachtung steht also allem Gegen¬
ie