VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 70


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Richard Wengraf, Eduard Poetzl
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des Lebens in einem völligen Gegensatze zur wiene¬
Kraft und Geschmeidigkeit gewannen im Kampf¬
rischen Psyche steht. Dies ist die sogenannte „jung¬
spiele die Braut. Der schmelzenden Stimme des
wiener Literatur“, die aus der Stadt geboren ist,
Troubadours, dem Zauber, der im Liebesliede liegt,
der aber die breiten Schichten der Bevölkerung
folgte das minnigliche Weib, wenn sich ihr Blick
fremd gegenüberstehen. Vielleicht spricht das gegen
auch am Glanze der Tourniere erfreute. Mit Gold
diese Kunstgattung, vielleicht gegen die Bevölkerung.
gewann aber, seit Jupiter die schöne Danaé beglückte
Diese Frage soll hier nicht näher eröriert werden.
und seit Freya der lieblichen Gerd goldene Apfel
Um Volkskunst zu sein, dazu fehlt der jungwiener
sandte, im Altertum und Mittelalter der reiche Mann
Literatur der Zusammenhang mit dem geistigen
die Hand des Mädchens. Marie de France, die
Mittelstande, sie kann bloß aus dem Volke schöpfen,
Dichterin des 13. Jahrhunderts, sieht in jedem
nie aber in das Volk zurückkehren. Fritz Reuter ist
Ehebruch ein Verbrechen und erkennt nur eine Aus¬
in Mecklenburg und überall in plattdeutschen Landen
nahme als berechtigt an: Wurde ein junges Weib
ein wahrer Volksdichter, denn er wird in jedem Hause
des Besitzes wegen einem Manne verkuppelt, so
gelesen, in jedem Hause verstanden. Verthold Auer¬
solle es, nach ihrem Erachten, dem Zug des Herzens
bachs Bauern mögen uns heute maniriert und
folgen, wenn es in späterer Zeit den wahren Ge¬
unecht erscheinen, aber sie waren, als sie im „Schwä¬
liebten entdeckt. Die Macht des Goldes wächst durch
bischen Merkur“ hervortraten, lebendig und nicht nur
die Jahrhunderte, der Schlüssel zu Frau Minnes
für einen Kreis feiner Kenner und schöngeistig an¬
Kämmerlein wird immer kostbarer mit strahlenden
gehauchter Frauen, sondern für ganz Schwaben,
Steinen besetzt, und die Schuld, für die Frankreichs
soweit es lesen und schreiben konnte. In diesem
schöne Dichterin im bretonischen Lied Straflosigkeit
Sinne ist auch Rosegger weit mehr der Dichter der
fordert, zeigt sich immer häufiger in Dichtung und
Alpenländer als der kräftigere und mindestens ebenso
Leben.
heimatechte Schönherr. Was wir an unseren mo¬
Im jugendfrischen Rittertum schlug noch ein
dernen wiener Dichtern vermissen, das ist nicht die
weiches Herz unter dem stählernen Panzer, die Kultur
Echtheit ihrer Schilderungen, denn die besten unter
lag in der Achtung vor der Frau, deren Besitz durch
ihnen, hier sei Schnitzlers gedacht, haben bewunderns¬
Einsetzen der Person gewonnen wurde, deren Bild
werte Einblicke in einzelne Gesellschaftsschichten getan,
wie ein Idol vor Augen schwebte, träumend und
vielleicht gerade, weil sie ein wenig außerhalb standen.
wachend, deren Wort Gewalt über Schwert und
Wie denn auch beispielsweise niemand die Psyche¬
Arm besaß und den kraftstrotzenden Helden zum
logie des wiener Gewerbetreibenden schärfer erfaßt
sanften Kinde verwandeln konnte.
hat als der stadtfremde J. J. David in seinem
„Ihr schwarzen Augen, ihr dürft nur winken,
Roman „Der Übergang“. Aber als repräsentative
Paläste fallen und Städte sinken,
Schriftsteller Wiens können doch nur jene gelten,
Wie sollte stehen in solchem Strauß
die es verstanden haben, zu sagen nicht „was ist“,
Mein Herz, von Karten das schwache Haus.
sondern was ungezählte Tausende ihrer Landsleute
Der Frau gehörte das Mittelalter wie keine
empfinden, was diese ungefähr ebenso ausdrücken
andere Zeit, das Liebeslied blühte wie niemals
würden, wäre nicht die Gabe des Schreibenkönnens
wieder, und die Vergleiche überboten sich in Über¬
eine so seltene Sache.
schwänglichkeit. Die singend klagende Nachtigall —
Einer der wenigen Autoren nun, die zur Literatur
das Sinnbild antiker Dichter — genügte nicht mehr,
zählen und dabei durchaus repräsentativ für wiene¬
des Ritters Verlangen gleicht dem Falter, der sich in
rische Art sind, ist Eduard Poetzl. Freilich, eine
die Flammen stürzt, der Wachskerze, die, während
Definition der wiener Volksart zu geben, ist nicht
ihre Tränen niedertropsen, sich leuchtend im Lichte
so einfach. Schwerer womöglich als ähnliche Defini¬
verzehrt und verklärt. Es war der Lenz der Poesie.
tionen für andere Gebiete und Städte. Denn nicht
Durchblättern wir die alten Pergamente und denken
darauf kommt es an, was sich dem Fremden in
des Wenigen, das die Zeit zu bieten hatte, und des
wenigen Tagen eines Reiseaufenthaltes offenbart,
Vielen, das ihre Phantasie dem dürren Erdreich
der ihn immer nur in ganz bestimmte Beziehungen
entzauberte, kommt die eigene Jugend lockend und
zu bestimmten Berufsklassen bringt, ohne daß ihm
minnereich in den Sinn. Schöne Träume sind lang,
Gelegenheit würde, das Volk an der Arbeit zu
doch kurz schöne Tage.
sehen und bei jenen Vergnügungen, die sich außerhalb
der üblichen Unterhaltungsstätten einer Metropole
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abspielen. Dies gilt für jede Großstadt, wieviel

mehr erst für Wien, auf dessen Boden sich seit Jahr¬
hunderten unablässig Mischungen zwischen der ger¬
manischen, slavischen, magyarischen, romanischen und
Eduard Poetzl
semitischen Rasse vollzogen haben; denn all diese
Stämme haben sich zwar willig den herrschenden
Von Richard Wengraf (Wien)
Lebensbedingungen angepaßt, aber doch auch den
un man von „wiener Literatur“ spricht,
ursprünglichen niederösterreichischen Charakter der
so wird darunter zumeist ausschließlich
Stadtberölkerung beeinflußt, ein Prozeß, dessen Ende
K ein Genre verstanden, das zwar auf
noch gar nicht abzusehen ist. Wohl lassen sich noch
keinem anderen als auf dem wiener
immer als typisch wienerisch ein gewisser Hang zur
Boden sich entwickeln konnte, das aus dem Stim¬
Leichtlebigkeit und Mangel an Unternehmungs¬
mungsgehalte der Stadt, aus der Art ihrer Be¬
geist feststellen. Aber allzu stark ist der Zuzug
wohner seine Nahrung zieht und in diesem Sinne
stadtfremder Bevölkerung, als daß nicht auch hier
wohl auch Anspruch auf das Prädikat „Heimat¬
durch eingewanderte Elemente das Charakterbild
kunst“ erheben darf, das aber in seiner Auffassung
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