VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 71

2. Cuttings

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Richard Wengraf, Eduard Poetzl
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vollen Einfluß diese Beherrscher der Rubrik „unterm
verschoben worden wäre. Allerdings erschöpft sich
Strich“ auf das Kunst= und Kulturleben Wiens
die Einwirkung fremder Stammeszugehörigkeit zu¬
meist in ein bis zwei Generationen. Das ist in
geübt haben. Heute ist die Macht des einzelnen
Feuilletonisten geringer, denn die Zeitungen sind
anderen Großstädten auch nicht anders. Man wird
also von den sehr zahlreichen Ausnahmen absehen
zahlreicher geworden und der Glaube an die Offen¬
müssen, die noch inmitten der schon assimilierten Ein¬
barungen der Druckerschwärze erheblich gesunken.
Aber in der Ursprungs= und Hauptstadt der Kaffee¬
wanderer ihren eigenen Rasse= oder auch nur pro¬
vinzialen Charakter bewahrt haben, um ein halb¬
häuser gibt es eine Unzahl Gebildeter, die zur
wegs getreues Bild vom Wiener zu erhalten. Eine
Information über die Tagesereignisse ihr Leibblatt
der hervorstechendsten Linien in diesem Bilde ist
lesen und außerdem jedes in anderen Zeitungen
jedenfalls ein sehr festwurzelnder Konservativismus,
erscheinende Feuilleton, dessen Titel oder Autor
der nicht bloß blinde Scheu vor dem Neuen ist,
ihr Interesse auch nur einigermaßen reizt. Es mag
sondern vielmehr eine tiefe und innige Neigung
dahingestellt bleiben, ob dies für die Gesamtkultur
zu dem von Vätern und Urvätern Überkommenen.
unserer Stadt ein Vorteil ist. Denn eine so viel¬
fältige, übertriebene Zeitungslektüre ist nur zu sehr
Neuerungen, so unsympathisch sie berühren mögen,
wird selten tatkräftiger Widerstand entgegengesetzt;
geeignet, die Lust und Fähigkeit zur Aufnahme
doch hat hier die Gabe, an jeder Sache alsbald
gewichtigerer Literatur zu benehmen; ja, es hat sich
die lächerliche Seite herauszufinden, manchem un¬
nicht einmal irgendeine Revue großen Stiles auf
sinnigen Beginnen, zumal, wo es auf eine Ver¬
österreichischem Boden behaupten oder durchsetzen
unstaltung des Außern der geliebten Vaterstadt aus¬
können, weil unsere Tagesblätter in ihrem
ging, ein rascheres Ende gesetzt, als es geräuschvolle
Feuilleton zum Teile die Funktionen der Revuen
Versammlungen mit schneidigen Resolutionen je ver¬
mitübernommen haben. Indes, nicht um Kritik,
mocht hätten. Der wiener Humor ist nicht immer
sondern um Feststellung bestehender Tatsachen
so harmlos, als er sich gerne gibt. Er entbehrt nicht
handelt es sich hier; durch ihre Auseinandersetzung
eines Stiches ins Satirische, selten strebt er die
soll jedem mit wiener Verhältnissen minder ver¬
Augenblickswirkungen des Wortwitzes an, und häufig
trauten Leser die Ausnahmestellung des ersten
genug trifft er die Dinge in den Kern — bis zur
Feuilletonisten eines führenden wiener Blattes ver¬
Vernichtung. Man darf nur eben nicht als typisch
sinnlicht werden, wie sie etwa Eduard Poetzl seit
nabezu drei Jahrzehnten einnimmt
wienerischen Humor die kläglichen Surrogate an¬
sehen, die von sogenannten Volkssängern in an¬
Seine schriftstellerische Entwicklung ist merkwürdig
spruchsvollen Weinlokalen einem konsumkräftigen
genug. In Deutschland führt der Weg zur Literatur
Publikum geboten werden und in denen immer
zumeist durchs germanistische Seminar, in Österreich
wieder versichert wird, daß ein ansehnliches Quantum
durch irgendein staatliches Bureau. Poetzl ist keinen
Wein und „Maderln“ zum bürgerlichen Existenz¬
dieser Wege gegangen, und ein Literat im eigentlichen
minimum des „echten Weaners“ gehöre. Gegen
Sinne des Wortes ist er auch nie gewesen. Seine
solche geschäftsmäßige Verfälschung des wiener Cha¬
Pruxis hat er nicht mit Buchbesprechungen und
rakterbildes hat der unvergeßliche Friedrich Schlögl
Theaterrezensionen begonnen, sondern auf dem nüch¬
in den Siebzigerjahren mit zornfunkelnden Augen
ternsten Gebiete der Berichterstattung, in der Ge¬
seine satirische Geißel geschwungen — ohne andere
richtssaalrubrik. Ob er sich selber dieses Fach er¬
als rein literarische Wirkungen.!) Denn Propheten
wählt, ob es dem Anfänger durch das Machtgebot
mit Geißeln und zornfunkelnden Augen waren hier
des Chefs kurzerhand zugewiesen wurde, weiß ich
nie sonderlich beliebt. Derlei war niemals nach
nicht. Jedenfalls hätte er keine bessere Schule durch¬
dem Geschmacke Wiens, dem jede große Gebärde,
machen können als die Verhandlungen bei den Be¬
jeder Radikalismus unsympathisch bleibt, wo selbst
zirksgerichten der „enteren Gründ'“ der Vorstädte,
jedes politische Schlagwort, wenn es erst einmal
wo es sich selten um juristisch bedeutsame Kausen
ganz populär geworden, auch schon die Schärfe
handelt, wo Ehrenbeleidigungsklagen, bescheidene
seines Gepräges eingebüßt hat. ... Solcher Art
Körperverletzungen, geringfügige Eigentumsdelikte
ist der intellektuelle Boven, dem Eduard Poetzl ent¬
zur Aburteilung kommen. Hier drängt sich das
stammt.
Kleinbürgertum vor der Barre des überlasteten
Poetzls „Gesammelte Skizzen"*), so gelesen sie
Richters, der zu erheben hat, ob die Hausmeisterin
außerhalb Wiens und Österreichs sind, kennen nicht
tatsächlich die Resi aus dem vierten Stock einen
viele Wiener in der Buchausgabe. Das kommt
„frechen Trampel“ genannt und ob diese auch wirklich
daher, daß die Mehrzahl dieser Arbeiten als sehn¬
den Schani des Pförtners unbefugt geschopfbeutelt
lich erwartete, jubelnd begrüßte Sonntagsfeuilletons
habe. Denn unsere niederen Volksschichten haben
im „Neuen Wiener Tagblatt“, der hier verbreitet¬
eine unbezwingliche Neigung, mit ihrem Gezänk
sten Zeitung, erschienen ist.
zum Kadi zu laufen, wo dann meist die gegenseitigen
Wien ist von jeher die Stadt des Feuilletons
Schmähungen kompensiert werden und die ganze
gewesen. Unserer literarischen Vergangenheit ge¬
Haupt= und Staatsaktion mit zwei „Ehren¬
hören — leider — Saphir, aber auch Kürnberger,
erklärungen“ versöhnlichen Abschluß findet. Da
Daniel Spitzer, Ludwig Speidel, Eduard Hanslick
gibt's für den Humoristen und Volkspsychologen
an. Man weiß, welch großen, zum Teil verhängnis¬
übergenug zu lernen. Von der Gerichtssaalrubrik
hat denn auch Poetzls junger Ruhm seinen Ausgang
1) Wiener Blut. Kleine Kulturbilder aus dem Volks¬
leben der alten Kaiserstadt an der Donau. 4. Auflage.
genommen. Er begnügte sich nicht damit, die Tat¬
Wien 1875. — Wiener Lu#t. (Nachfolge des vorigen.)
sachen, Rede und Gegenrede, Urteil oder Vergleich
Wien 1876.
nach herkömmlicher Art aufzuzeichnen, sondern er
18 Bändchen. Wien, Robert Mohr. Einzelausgaben
ebenda, ferner bei Ad. Bonz und Ph. Reclam.
schuf, wo immer sein scharfes Auge ein paar heitere

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