VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 73

2. Cuttings

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Karl Strecker, Nietzsche=Literatur
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kungen dort, wo er ruhevolle Stimmungen, ferne
ein. Wir unsererseits glaut u keine Veranlassung
allem menschlichen Treiben, malt, gleichviel, ob er
zu haben, noch einmal in eser Frage das Wort
zu nehmen. Unsere eingehende Besprechung des ersten
von alten Höfen winkeliger Barockhäuser, von den
Bandes (LE 15. Juni 1908) traf fast Wort für Wort
Marktplätzen niederösterreichischer Kleinstädte, von
auch auf den zweiten zu, der nichts versäumt hatte,
der Jagd im Jungmais oder vom traulichen Feuer
unser Urteil zu begründen. Das Buch war schneller
des Kamins plaudert, das einem Einsamen die
gestorben als zur Welt gebracht — und einen Toten
Füße wärmt. Da gibt es Schilderungen, die man
zu
sezieren, gehört nicht zu den Aufgaben unserer
gar nicht oft genug lesen kann, Naturbilder, die an
Fakultät. Inzwischen wird der Verfasser selber wohl
das Beste heranreichen, was in dieser Gattung ge¬
eingesehen haben, daß er sich zu einer keineswegs
dankbaren Arbeit hat verleiten lassen; decken wir
schaffen worden ist. Niemand hat es wie er ver¬
also den Mantel, der so vieles deckt — nicht über ihn,
standen, die verschlafene Anmut eines Sommer¬
aber doch über seine „Nietzsche=Forschung“
sonntages in der inneren Stadt, einen Herbsttag
Mit wenigen Worten ist auch der kleinen Schrift
auf dem Kahlenberge zu preisen oder auch die
Ernst Jäckhs, einem Sonderabdruck aus der „Hilfe“.
dürftigen Schönheiten der nahen Tiefebene zu ver¬
hier genug getan. Freilich aus einem anderen Grunde,
künden. Den Lesern des „Neuen Wiener Tagblatt“.
de
i sie erfüllt ihren Zweck: die Streitschrift des
werden diese intimen, von feinstem poetischem Reize
jungen Nietzsche gegen David Strauß in ihrer Ent¬
durchwobenen kleinen Kunstwerke weniger in der
stehung, ihrem Wert und ihren Folgen zu beleuchten.
Erinnerungen haften als die humoristischen Skizzen.
vollkommen. Bei Untersuchung der Gründe, aus
denen Nietzsche“ gerade Strauß unter den vielen
Aber vielleicht wird gerade durch sie Poetzls Name
literarischen““ Philistern“, die er anzugreifen sich
in der österreichischen Literatur Bestand haben.
vorgemerkt hatte, zuerst herausgriff, kommt Jäckh zu
dem Schluß: Nietzsche gegen Strauß, weil Strauß
gegen“ Wagner. Der Verfasser zergliedert nicht „mit
herklugen Langsamkeit eines raffinierten Philo¬
lohen“, wie Nietzsche einmal in einem Briefe sagt,
Esondern mit sachlicher Knappheit den Streitfall
Nietzsche=Strauß; wer sich gründlich mit Nietzsche
als Polemiker und Umwerter vertraut machen
will, wird das fleißige und objektive kleine Druckheft
Lsprethungen
nicht übersehen dürfen.
Objektiv — das ist nämlich ein seltener Vorzug
bei einem neueren Werk über den Einsiedler von
Nietzsche=Literatur
Maria=Sils. Das kleinliche und parteisüchtige Ge¬
zänk, das sich infolge der oben flüchtig berührten
Von Karl Strecker (Berlin)
Angriffe Unberufener und einer hartnäckigen Ver¬
teidigung der Archiv=Feste in den letzten Jahren
Friedrich Nietzsche und David Srauß. Von Ernst
an Stelle einer ruhigen, ernsten Nietzsche=Forschung
Jäckh. Berlin 1909, Buchverlag der Hilfe.
breit gemacht hat, wirft leider auch auf die Redaktion
Overbeck und Nietzsche, Eine Freundschaft. Von
der wertvollen Briefbände, die hier vorliegen, noch
Bernoulli. Zweiter Band. Jena 1908,
Eug. Diedrichs.
einige Schatten. Es is menschlich, daß Frau Förster¬
Nietzsches Briefe an Peter Gast. Herausgegeben
Nietzsche jedes Beweismitte! das sich in der Hinter¬
von Peter Gast. Leipzig 1909, Insel=Verlag.
lassenschaft Nietzsches zur Wiverlegung der gegen sie
Nietzsches Briefe an seine Mutter und Schwester.
rhobenen Vorwürfe findet, jetzt höher wertet, ##s
Herausgegeben von Frau Ellsabeth Förster=Rietzsche.
es ohne jene Verdächtigungen geschehen wäre, daß
Leipzig 1909, Insel=Verlag.
sie darum mit Briefstellen, die diesem besonderen
ietzsche als Mensch

das ist die heimliche
Zweck dienlich sind, nicht zurückhält, selbst wenn sie
470 „thematische Einheit“ der jüngeren Nietzsche¬
an sich belanglos sind. So kommt es, daß nament¬
lich der erste Band der Briefe an Mutter und
steratur. Am stärksten und reinsten klingt
dies Leumotiv aus den Briefen an die Mutter und
Schwester mit manchem entbehrlichen Ballast beschwert
Schwester hervor, vielleicht dem wichtigsten psycho¬
wird. Auch im zweiten fehlt es nicht daran, so ist
logischen Dokument, das wir bisher über Nietzsche
etwa S. 793 letzter Absatz u. s. nur eine Variation
haben. Soviel steht fest: ohne diese beiden starken
von S. 773f. und in den Briefen an Gast von
S. 407, 412s.
Bände eindringlich zu befragen, wird fortan keiner
befugt sein, ein ernsthaftes Urteil über den Menschen
Zugegeben: es ist keine leichte Aufgabe für eine
Nietzsche abzugeben. Sie liefern, zumal mit der
Schwester, hier die rechten Grenzen zu ziehen. Aber
wertvollen Ergänzung durch die offenherzigen Gast¬
wenn die Briefe aus Nietzsches beiden leipziger
briefe, den neuen und eigentlichen Hauptschlüssel zu
Studentenjahren ohne weiieres ausgeschaltet sind,
seinem innersten Wesen, damit = zu seinem Schaffen.
so hätte sich wohl in der Korrespondenz des pförtner
Sie geben aber auch den rechten Gesichtspunkt
Gymnasiasten, die (wie übrigens auch die des baseler
zur Betrachtung der hier vorliegenden Nietzsche¬
Dozenten) wenig Bedeutendes bringt, eine strengere
Schriften; sie ersparen uns sogar ein längeres Ver¬
Auswahl treffen lassen. Freilich wird Frau Förster¬
weilen bei dem weitläufigsten dieser Werke, das
Nietzsche noch ein anderer Grund zu dieser Mitteilsam¬
jetzt gewissermaßen unter den Visionsradius fällt:
keit veranlaßt haben. Peter Gast erzählt in der
bei Vernoullis zweitem Band von „Overbeck und
Einleitung zu seiner Briessammlung von seiner ersten
Nietzsche“. Nur wenige Worte zur Verständigung.
Begegnung mit Nietzsche: — daß er, anstatt einen
Bekanntlich verzögerte sich das Erscheinen dieses
herben, schroffen Gelehrten zu finden (wie er nach
zweiten Bandes infolge Gerichtsbeschlusses um viele
Nietzsches Schriften erwartet hatte), überrascht gewesen
Monate. Als er endlich erschien, enttäuschte er noch
sei durch „seine Güte, seinen innigen Ernst, die Ab¬
mehr als der erste Band, und auch die meisten
wesenheit jedes Sarkasmus“. Dieses Bild des Men¬
Kritiker, die sich bis dahin abwartend verhalten
schen Nietzsche tritt in der Tat aus den vorliegenden
hatten, stimmten jetzt in die ziemlich allgemeine
Briefbänden deutlich heraus, und jedes Epistelchen
Verurteilung des Werkes nach Zweck und Inhalt
fast gibt einen leisen, seinen Strich zu dem Bilde.