VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 167

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kann Thomas Mann kaum mehr lieben und achten, als ich es
tue. Die „Buddenbrooks“ sind der einzige Roman der letzten
deutschen Generation, den ich bereits zum vierten Mal lese; und
ich hoffe, ihn vor meinem Tode noch mindestens achtmal zu lesen.
Aber es ist zweifellos ein Irrtum, zu glauben, daß die wohltätige
Klarheit, Straffheit und Zielsicherheit dieses Stiles der Bändigung
elementarer Rauschkräfte entsprungen sei; künstlerisches Thema
und persönliches Bekenntnis Thomas Manns machte es doch ganz
gewiß, daß diese Kunst ein (sittlich höchst rühmenswertes) immer
erneutes Sich=Aufraffen bewußten Willens aus einer sinnlich ver¬
sinkenden Müdigkeit ist. Diese Müdigkeit eines Späten, Letzten
kann auch etwas Rauschhaftes haben. Aber diese Agonie, durch
deren Bekämpfung der Wille allein noch gestaltet, darf nicht mit
dem großen Zeugungsrausch der Beginnenden, der den Willen ge¬
biert, verwechselt werden. Sonst käme man dazu, Rembrandt
und Watteau, Béethoven und Chopin, Goethe und Musset, Dosto¬
jewskij und Arthux Schuitzlenauf eine Ebene zu stellen. Aus
dem Rausch der Jugendkraft erhält die Menschheit die großen Er¬
neuerer und Vorkämpfer; aus dem Rausch des Sinkens erhalten
Zeit= und Schicksalsgenossen ihre oft gefährlichen, zuweilen — bei
so edler Willensspannung — erziehlichen, stets aber schmerzlich be¬
glückenden Gefährten. Diese beiden Phaenomene wollen wir nicht
verwechseln. Bruno Frank aber ist uns ganz wie sein Meister ein
schmerzlich lieber und in seiner edlen Haltung heilsamer Gefährte.
Sein bewegendes Gewicht gibt das Sinken von Kulturhöhen her,
nicht der vulkanische Auftrieb aus dem Erdkern.
Bruno Franks reife Novellenbände haben die ganze Klarheit,
Straffheit und Zielsicherheit der Formgebung Thomas Manns;
aber sie heißen „Flüchtlinge und „Der Himmel der Enttäuschten',
und die resignierte, sinkende Geste dieser Titel kennzeichnet den
auch in der Motivsetzung Variationen des Mannschen Grund¬
themas. Meist etwas verengt im Format; im Sozial=Stofflichen
und, was damit zusammenhängt, im Pathos etwas gedrückt. Na¬
türlich sind die Menschen „ohne Waffen“, wie sie ein Gedicht
Bruno Franks nennt, Thema; Menschen, die einen Tropfen
Kunst, all=liebenden Verstehens in sich haben, einen Tropfen, der
ihre bürgerliche Existenz zerfrißt wie Gift. Der schüchterne,
kleine Bürger, wenn er an der Melodie Beethovens, die sich einmal
Umriß das Schicksal Thomas Buddenbrooks. Der Bankdirektor,
der, von einem unbürgerlichen Rauschbedürfnis getragen, unter
Hochstaplern sein Abenteuer in Venedig' erlebt, ist, obschon etwas
ironisiert, doch nur ein unbegabterer Vetter jenes Schriftstellers
Aschenbach, den Thomas Mann im gleichen Venedig den Tod
finden läßt. (Bruno Franks Novelle ist übrigens merkwürdiger
Weise früher entstanden als Thomas Manns. Es gibt Nach¬
ahmungen, die zeitlich dem Original vorausgehen in der Kunst!
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