sehnsüchtig durch die Schleier tappen wollen, dann
sind Berge da und Abgründe tun sich auf, die sie
daran hindern, weiterzudringen. Oder auch bloß be¬
queme Betten und Sofas, in denen es sich gar zu
behaglich liegt. Alle Hindernisse, alle Gebote und
Verbote der Kultur, die in ihrem Blute ist und sie
müde und zu anstrengenden Abenteuern unfähig
macht. Das Ideal der kulturmüden Melancholiker
ist der Kondottiere. Das Rinascimento überhaupt.
Die starke: Menschen. Aber es dürfte nicht gar so
unbequem sein, den Ruf eines starken Menschen zu
erwerben und zu verteidigen. Man sehnt sich nache
der Renaissance! Die Mediceer! Lorenzo, der Präch¬“
#tige! Oder gar die Borgia! Aber es müßte ein
erleichterte Ausgabe der Renaissance sein, ein Borgig
in Duodez. Und wenn man schon ein Kondottiere ist,
so müßte man ein Kondottiere sein, der abends bei
Arthur Schnitzler
Sacher speisen kann
und nachts beim Nach¬
hausekommen im
Vorzimmer die elek¬
trische Beleuchtung
einschaltet, weil es
doch sehr unbequem
ist, mit der Kerze zu
hantieren.
Herren des Le¬
bens sein, heißt: tun,
was man will. Töten
oder lieben nach der
Eingebung des Au¬
genblickes. Aber da
sind die Gesetze und
die öffentliche Mei¬
nung und die eigene
Bequemlichkeit. Da¬
rum sagt man mit
einer leichten Modu¬
lation des Akkordes
aus Dur in Moll:
tun, was man kann.
Tun, was man kann.
Das ist immerhin ge¬
nug. Lächelnd über¬
zeugt man sich davon.
Esbleibt genugübrig,
wenn man sich auf
das beschränkt, was
im engen Kreis un¬
Arthur Schnitzler
serer Möglichkeiten
gestattet ist. Man
Groß ist Schnitzlers typenbildende Kraft. Er hat
kann ja bis an die Grenze gehen und, das Rauschen
uns den leichtsinnigen Melancholiker gegeben. Aber
des Lebens im Ohr, seinen kleinen Abenteuern eine
der Typ war vor Schnitzler da. Er fand ihn in
Bedeutung erträumen, die sie nicht haben. Oder
seiner Zeit und stellte ihn mit bildnerischer Kraft auf
man kann auf alle „Bedeutung“ verzichten und leicht¬
die Bühne und zeichnete ihn in seine Bücher. Aber
sinnig, im Taumel des Momentanen, den Ruf des
einen anderen Typus hat Schnitzler nicht entdeckt,
Lebens nicht mehr hören ... sich überreden, ihn
sondern erfunden. Das „süße Mädel“. Er erfand
nicht mehr zu hören.
ihn als Gegenstück zum leichtsinnigen Melancholiker.
Dann ... dann ... dann
Als das unbewußte, triebhafte Ersatzwesen für den
an grauen Morgen oder plötzlich mitten in der
bewußten, mit Skepsis gesegneten Mann. Nachdem
Nacht wieder die Erkenntnis: wie töricht ist es, sich
das süße Mädel durch Schnitzler einmal vorbildlich
selbst so zu betrügen. Wir können nicht, was wir
geschaffen war, tauchte es überall in der Wirklichkeit
wollen. Wir tun nicht einmal, was wir können.
* Die jungen Leute suchten und fanden es nun
Wir tun nur, was wir müssen. Wir begnügen uns
überall, und wo der Fund dem Typus nicht genau
mit Surrogaten und bilden uns ein, wir hätten die
entsprach, erzogen sie ihn sich nach Schnitzlers An¬
echten Dinge, die sie uns ersetzen sollen. Unsere
gaben. Das süße Mädel ist auf dem Wiener Boden
Liebe, unsere Freundschaft, unser Glück — lauter
daheim. Hier gibt es alle Ingredienzien, alle chemi¬
Surrogute. „Wir bringen einander die Stichworte so
schen Bedingungen für das köstliche Gewächs. Die
geschickt,“ sagt so ein leichtsinniger Melancholiker, der
heitere Verträumtheit des jungen Mädchens, die
Dichter Sala im „Einsamen Weg“, ... „Es gibt
Sehnsucht nach dem Leben, die leichtsinnige Grazie
pathetische Leute, die solche Beziehungen Freundschaft
im Genuß des Augenblicks und die melancholische
nennen.“ So denken die leichtsinnigen Melancholiker
Gewißheit eines Endes. Auch diese Mädchen blühen
in ihren grauen Stunden über die Surrogate, die sie
aus dem Boden einer alten Kultur, süße und köstliche
nicht entbehren können. Das Lächeln, das diese Ge¬
Blüten aus einem Boden, in dem sich der gelockerte
danken begleitet, ist ein wenig trübe und traurig.
Humus schon ein wenig mit Moderstoffen vermischt
Bis zum nächsten Taumel des Leichtsinns. Bis zum
hat. Sie sind keine angestochenen Früchte, sie sind
nächsten, im Rausch versinkenden Augenblick, indem
durchaus gesund — sie fallen nur ein wenig früh
die Gegenwart eines Surrogat=Glückes empfunden
vom Baum. Der leichtsinnige Melancholiker liebt
wird.
zum Teil mit dem Kopf und zum andern Teil
„Mehr als die Wahrheit, die da war und sein wird,
mit dem Unterleib. Das süße Mädel aber liebt
Ist Wahn, der ist . . . der Augenblick regiert!“
ganz mit dem Herzen. Es denkt nicht nach und
(Paracelsus.)
besinnt sich nicht; wenn es Bedenken hat, so
578
sind Berge da und Abgründe tun sich auf, die sie
daran hindern, weiterzudringen. Oder auch bloß be¬
queme Betten und Sofas, in denen es sich gar zu
behaglich liegt. Alle Hindernisse, alle Gebote und
Verbote der Kultur, die in ihrem Blute ist und sie
müde und zu anstrengenden Abenteuern unfähig
macht. Das Ideal der kulturmüden Melancholiker
ist der Kondottiere. Das Rinascimento überhaupt.
Die starke: Menschen. Aber es dürfte nicht gar so
unbequem sein, den Ruf eines starken Menschen zu
erwerben und zu verteidigen. Man sehnt sich nache
der Renaissance! Die Mediceer! Lorenzo, der Präch¬“
#tige! Oder gar die Borgia! Aber es müßte ein
erleichterte Ausgabe der Renaissance sein, ein Borgig
in Duodez. Und wenn man schon ein Kondottiere ist,
so müßte man ein Kondottiere sein, der abends bei
Arthur Schnitzler
Sacher speisen kann
und nachts beim Nach¬
hausekommen im
Vorzimmer die elek¬
trische Beleuchtung
einschaltet, weil es
doch sehr unbequem
ist, mit der Kerze zu
hantieren.
Herren des Le¬
bens sein, heißt: tun,
was man will. Töten
oder lieben nach der
Eingebung des Au¬
genblickes. Aber da
sind die Gesetze und
die öffentliche Mei¬
nung und die eigene
Bequemlichkeit. Da¬
rum sagt man mit
einer leichten Modu¬
lation des Akkordes
aus Dur in Moll:
tun, was man kann.
Tun, was man kann.
Das ist immerhin ge¬
nug. Lächelnd über¬
zeugt man sich davon.
Esbleibt genugübrig,
wenn man sich auf
das beschränkt, was
im engen Kreis un¬
Arthur Schnitzler
serer Möglichkeiten
gestattet ist. Man
Groß ist Schnitzlers typenbildende Kraft. Er hat
kann ja bis an die Grenze gehen und, das Rauschen
uns den leichtsinnigen Melancholiker gegeben. Aber
des Lebens im Ohr, seinen kleinen Abenteuern eine
der Typ war vor Schnitzler da. Er fand ihn in
Bedeutung erträumen, die sie nicht haben. Oder
seiner Zeit und stellte ihn mit bildnerischer Kraft auf
man kann auf alle „Bedeutung“ verzichten und leicht¬
die Bühne und zeichnete ihn in seine Bücher. Aber
sinnig, im Taumel des Momentanen, den Ruf des
einen anderen Typus hat Schnitzler nicht entdeckt,
Lebens nicht mehr hören ... sich überreden, ihn
sondern erfunden. Das „süße Mädel“. Er erfand
nicht mehr zu hören.
ihn als Gegenstück zum leichtsinnigen Melancholiker.
Dann ... dann ... dann
Als das unbewußte, triebhafte Ersatzwesen für den
an grauen Morgen oder plötzlich mitten in der
bewußten, mit Skepsis gesegneten Mann. Nachdem
Nacht wieder die Erkenntnis: wie töricht ist es, sich
das süße Mädel durch Schnitzler einmal vorbildlich
selbst so zu betrügen. Wir können nicht, was wir
geschaffen war, tauchte es überall in der Wirklichkeit
wollen. Wir tun nicht einmal, was wir können.
* Die jungen Leute suchten und fanden es nun
Wir tun nur, was wir müssen. Wir begnügen uns
überall, und wo der Fund dem Typus nicht genau
mit Surrogaten und bilden uns ein, wir hätten die
entsprach, erzogen sie ihn sich nach Schnitzlers An¬
echten Dinge, die sie uns ersetzen sollen. Unsere
gaben. Das süße Mädel ist auf dem Wiener Boden
Liebe, unsere Freundschaft, unser Glück — lauter
daheim. Hier gibt es alle Ingredienzien, alle chemi¬
Surrogute. „Wir bringen einander die Stichworte so
schen Bedingungen für das köstliche Gewächs. Die
geschickt,“ sagt so ein leichtsinniger Melancholiker, der
heitere Verträumtheit des jungen Mädchens, die
Dichter Sala im „Einsamen Weg“, ... „Es gibt
Sehnsucht nach dem Leben, die leichtsinnige Grazie
pathetische Leute, die solche Beziehungen Freundschaft
im Genuß des Augenblicks und die melancholische
nennen.“ So denken die leichtsinnigen Melancholiker
Gewißheit eines Endes. Auch diese Mädchen blühen
in ihren grauen Stunden über die Surrogate, die sie
aus dem Boden einer alten Kultur, süße und köstliche
nicht entbehren können. Das Lächeln, das diese Ge¬
Blüten aus einem Boden, in dem sich der gelockerte
danken begleitet, ist ein wenig trübe und traurig.
Humus schon ein wenig mit Moderstoffen vermischt
Bis zum nächsten Taumel des Leichtsinns. Bis zum
hat. Sie sind keine angestochenen Früchte, sie sind
nächsten, im Rausch versinkenden Augenblick, indem
durchaus gesund — sie fallen nur ein wenig früh
die Gegenwart eines Surrogat=Glückes empfunden
vom Baum. Der leichtsinnige Melancholiker liebt
wird.
zum Teil mit dem Kopf und zum andern Teil
„Mehr als die Wahrheit, die da war und sein wird,
mit dem Unterleib. Das süße Mädel aber liebt
Ist Wahn, der ist . . . der Augenblick regiert!“
ganz mit dem Herzen. Es denkt nicht nach und
(Paracelsus.)
besinnt sich nicht; wenn es Bedenken hat, so
578