VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 184



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2. Cuttings
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Karl Hans Strobl, Arthur Schnitzler
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Wedekind sagt: Das Leben ist ein Affentheater.
Geschehens so überzeugend wie ein Weltgesetz. Ein
Und er gibt seinen Akteuren alle Unverschämtheit
Gefüge ohne Lücke. Hier ist das Erstarren des
und Frivolität, die man in zoologischen Gärten be¬
Spielers vor der Wahrheit seines Spieles. Und
wundern kann. Schnitzler ist gesitteter. Er sagt:
hier findet sich jener Satz, der die Beatrice zu kenn¬
Das Leben ist ein Puppenspiel. Auf dieser när¬
zeichnen bestimmt ist, zur allgemeinen Gültigkeit er¬
rischen Bühne sind wir alle Marionetten. Und der
hoben: „Es ist alles nur im selben Augenblick wahr.“
Puppenspieler selbst nicht anders als seine Puppen.
Nur daß er das Vergnügen des bewußten Betruges
In diesem verwirrenden Spiel sind nur zwei
vor ihnen voraus hat. Anatol gelingt es, seine
Dinge gewiß: das Leben und der Tod. Leben und
geliebte Cora zu hypnotisieren. Sie antwortet auf
Tod sind die beiden Angelpunkte unseres Denkens.
alle Fragen. Und nun hat Anatol die „Frage an
Und sie sind die beiden Pole unserer Dichtung.
das Schicksal“ frei. Die große Frage: ob sie treu
Selten aber ist die Linie, die sie verbindet, bei einem
sei. Aber — er tut diese Frage nicht. Er zieht es
Dichter so stark und bestimmt wie bei Schnitzler.
vor, im ungewissen zu bleiben. Er betrügt sich selbst
Fast alle bedeutenden Worte, die seine Personen
als genialer Spieler, der seiner Szene immer noch
sprechen, betreffen, wenn nicht das sonderbare, krause,
eine Möglichkeit offen läßt.
zitternde Arabeskenwerk der Träume, so die große,
grause, unerbittliche Realität des Gegensatzes zwischen
„Es ist doch die schönste Art, sich über die Welt
Leben und Tod. Immer, wenn von der Bühne herab
lustig zu machen; einer, der uns vorspielen kann,
ein Aphorismus gesprochen wird, wenn etwas wie ein
was er will, ist doch mehr als wir alle,“ sagt der
Zitat aufblitzt, geht es diese beiden Themen an.
Herzog im Grünen Kakadu“. „Der grüne Kakadu“
Sie sind die einzigen, die Schnitzler zu einer dem
ist ein Revolutionsstück. Es ist Schnitzlers größter
Skeptiker eigentlich fremden schillerschen Gebärde
dramatischer Wurf. Andere Stücke sind feiner, zärt¬
verführen. Über alle anderen Angelegenheiten spricht
licher, beflissener, uns zu gewinnen, im Dialog be¬
sich Schnitzler durch Paradoxe aus. Man weiß, wie
deutender oder im Gedanken abseitiger. „Der grüne
Paradoxe entstehen. Sie sind kristallisierte Wahr¬
Kakadu“ ist der gewaltigste Wurf. Er zeigt den
heiten von der Dauer eines Augenblicks. Ihr Reiz
ganzen Gedankenkompler vom Puppenspiel in einigen
ist die Vergänglichkeit. Aber über Leben und Tod
wilden, grandiosen Szenen. Manchmal webt Schnitz¬
möchte Schnitzler so etwas wie eine immer gültige
ler Teppiche, klöppelt Spitzen oder schleift Nasier¬
Wahrheit sagen. Eine Wahrheit mit Ewigkeitswert.
messer. Nirgends ist er so gedrungen, so kraftvoll,
Für einen Skeptiker ist das ein seltsames Beginnen.
so wuchtig. Man zittert im Innern vor dieser Hand¬
Es macht ihn sozusagen sich selbst untreu. Darum
lung, die in der schwülen Atmosphäre einer Kneipe
schleicht sich manchmal hier ein Hauch von Pose ein,
vor sich geht. Ein Spelunkenwirt, ehemaliger
eine leichte Witterung des Pathetischen, die Schnitzler
Theaterdirektor, der die Aristokraten haßt, der ihnen
sonst vorsichtig vermeidet.
aber allabendlich ein köstliches Schauspiel bereitet.
Er hebt die Hand: nun kommt etwas! Acht¬
Die frivole Gesellschaft des Paris vom Vorabend
geben, meine Herrschaften . .. das steht Schnitzler
der Revolution. die unersättlich nach immer neuen
nicht gut. Aber diese Dinge sind ihm so wichtig,
daß ihm, der sich sonst so bewußt beherrscht, so genau
lüstiges Vergnügen, in dieser Spelunke einzukehren,
beobachtet, nichts auffällt. Etwas spricht da mit,
in der herabgekommene Mimen sich als Verbrecher
etwas Rührendes. Mit diesen Schauern vor der
aufspielen. Henri, der geniale Kerl, der sein Weib,
einen, einzigen Gewißheit unserer Existenz, von der
die Dirne jedermanns, rasend liebt und heute
Gegensätzlichkeit von Leben und Tod, stillt Schnitzler
letztenmal auftritt, um morgen mit ihr auf das
sein metaphysisches Bedürfnis. Er hat kein anderes.
Land zu ziehen — von Paris fort, von Peris fort!
Gott? Unsterblichkeit? Ja, selbst der kategorische
Man weiß, daß sie ihn betrügt, noch heute verrügt.
Imperativ, als ein sehr willkommenes Ersatzrequisit,
Und nun die große Szene, in der seine Kunst den
fehlt! Der sichere Mann, der Idealist sagt wie
unerhörtesten Triumph feiert. Selbst seine Zunft¬
Max im „Ruf des Lebens“: „Wer nur an sich
genossen glauben ihm die schrecklich gespielte Lüge,
denkt, stirbt in jedem Augenblick; wer die Zu¬
sammenhänge begreift, lebt ewig.“ — Ah — es ist
Cadignan, den er mit seiner Frau ertappt hat. Und
etwas Schönes um das Begreifen der Zusammen¬
dann das langsame Erkennen, daß er mit seinem
hänge! Auch ein reizvolles Spiel. Aber die Wahr¬
Spiel die Wahrheit getroffen habe. Und nun tritt
heit, die Gewißheit ist, was Albrecht im selben Stück
der Herzog herein, und die Lüge wird nun Wirklich¬
sagt: „Nichts kommt nach uns. Alles stirbt mit uns.
keit. Henri stößt dem Herzog seinen Dolch in den
Unser eigener Mörder, während er uns den Dolch
Hals. Draußen ziehen brüllend die Sieger heran,
ins Herz gräbt, stirbt mit uns.“ In diesen Schauern
das Volk, das die Bastille erstürmt hat, mit dem
wird Schnitzlers metaphysisches Bedürfnis befriedigt.
Kopf Delaunays auf einer Stange. Der Dichter
Überall, wo Schnitzler tragische Wucht erstrebt, ver¬
Rollin aber sagt: „Was wetten wir, daß alles
wendet er diesen Gegensatz und Ableitungen aus
arrangiert ist? Die Kerls da gehören zur Truppe
ihm. Er steht im Mittelpunkt seiner Dichtung.
von Prospère. Bravo, Prospère, das ist dir ge¬
„Namenlos erschreckt“ durch des Daseins Wunder,
lungen.“
„vor der Buntheit dieser Welt in Andacht hin¬
Hier ist alles im Brennpunkt vereinigt. Alle
gesunken“, zieht er aus ihm nicht nur Schauer, sondern
Erregungen und aller Wahnsinn des Spieles, alle
auch Genüsse. „Nie mehr übers Feld sprengen in
Dummheit und alle Weisheit des Zufalls, hier sind
lichter Frühe, den Himmel überm Haupt — nie
die Fäden so vielfach verschlungen und doch jeder in
mehr an blühenden Lippen hängen, vom Dufte
seinem Verlauf so klar. Hier ist die Brutalität des
zitternder Brüste umweht, — kein Laut lebendiger