VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 192

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2. Cuttings

beiden. Diese Dritten verhalten sich zur Kultur ihrer] Ding, das man indivi
# Literatur.
Zeit ungefähr wie verständnisvolle Historiker. Der rich= mag. Die rechte Leben
tige Historiker hat nämlich auch eine Poxtion Künstler= digerweife aus dem blo
### Der enigmatische Mann.
tum. Wer, ohne die Fähigkeit, fein zu differenzieren
nicht gewinnen. Sie ist
Von Hermann Kienzl, Berlin.
und sich einzufühlen, ein geschichtswissenschaftliches Buch von Außen= und Jun
liefert (gar viele Lieferanten sind unkünstlerisch), der
Jede Zeit hat ihr eigenes Fallobst. Die Kultur des
ist der Schoß, in dem
kann, wenn er über die bloße Mitteilung äußerer Ge¬
späten Rom war nach seinen orgiustischen Kaisern frisiert:
keineswegs als Lehrbuc
schehnisse hinausgeht, gar nicht anders als Geschichte
Julia, die blutrünstigen Weiber auf den Galerien des
dichtung gevoren werden
fälschen. Und wäre er der redlichste Sammler, und
Zirkus, Nero, Caligula. Daneben Seneca. Das Rokoko
sich in schmerzvoller Gel
hätte er ein Sitzfleisch, dauerhaft wie Büffelhaut.
der Bourbonen feierte den Teiumph seiner lüsternen An¬
dichterischen Persönlichkeit
Es hat sehr viele Historiker, Leuchten der Wissen¬
mut am graziösen Hofe Ludwigs des Vierzehnten; seine
Ich habe nicht verge
schaft, gegeben die von Geschichte nichts verstanden,
charakteristische Dekadenz war der Hirschpark Ludwigs
berg den Erziehungsrom
weil —
sie keine Künstlerader hatten, nicht zart zu
des Fünfzehnten, den die Königin=Maitresse Pompadour,
den ich als aufklärende
differenzieren und daher auch nicht die geheimen
erfinderisch in immer äußersten Reizmitteln, wie zum
treue als tapfere Abspieg
Zusammenhänge zu finden wußten, aus denen sich die
Denkmal stiftete. Daneben die Enzyklopädisten. Unser
sehr hoch schätze. Unter
Erscheinungen und Tatsachen erklären. Wackere Hilfs¬
Fallobst: das hysterische Weib, der hysterische Mann.
absichtslos und unbewuß
Daneben Tolstoi.
arbeiter, Chronikenmaulwürfe, Amtsschreiber der Klio
ich eben nicht Tend. az v
Das sind Schlagworte, die so mächtig viel sagen
mögen sie im günstigen Falle sein. Und auch wieder Müssen; den schöpferische
Schriftsteller kenne ich, die nennt man Dichter, weil sie
wollen, daß sie fast nichts sagen. Bei dem Worte
das Wachsen statt des En
Erzählungen erfinden, Novellen und Romane. Im Ver¬
„Schlagwort“ liegt ja der Ton immer auf der ersten
keit hat, hat Weltanschau
hältnis zur Kultur ihrer Zeit sind sie (diese Kategorie,
Silbe: es schlägt zu — moralisch, politisch oder irgend¬
Das jüngste Buch: „
die ich meine) weder Mitbauer, noch unmittelbar Ge¬
wie polemisch. Es ist die eigentliche Wasse aller Unent¬
(warum nicht schlicht
nießende. Sie haben dazu nicht den vollen Herzschlag.
wegten, weil es der natürliche Todfeind des forschenden
Mann*?)*) ist ein Beitra
Doch besitzen sie genug Kunstverstand, um zu be¬
Bemühens, des Erlebens, des Sichbelehrenlassens und
Zeit. Aber doch nur in
obachten, um kritisch zu differenzieren, um das ihnen
aller Differenzierungen ist. Wenn der Moralist „De¬
Maße, in dem der Mann
Fremde zu verstehen, um zu sammeln und zu sichten.
kadenz“ sagt, so schaudert ihn und er verdreht die Augen
sich, nicht bloß durch den
zum Himmel. O Laster!
Sie sind die Historiker in der schönen Literatur. Der
in den verschiedensten Zeit
Typus des Rezensenten steht ihnen nahe; von ihm
Ist doch aber die Bestimmung der Frucht, zu reifen;
scheidet. Wie in der Verl
unterscheidet sie, daß sie Erfindungsgabe besitzen. Und
und wird sie völlig reif, so fällt sie ab. Ich weiß schon,
Gedichte macht, so gebärd
was unterscheidet sie von den Vollblutdichtern? Hier
daß man gemeinhin andere Früchte Fallobst nennt.
absurd, und wird doch k
helf' ich mir doch mit Schlagworten. „Es ist lebendig
Solche nämlich, die vor der Kalendernorm süß und er¬
trübes Naß fürs Philister
gewachsen,“
empfinden wir vor der einen
fahren sind, die rötlich schimmern, während die Brüder¬
lung ist eigentlich nur ein
Dichtung; vor der anderen: „Es ist aus Lebenswahrheit
lein und Schwesterlein noch sauer grünen. Der Wurm
ersonnen.“
keinem in einem höheren
steckt in ihnen. Kam der Wurm, weil sie süß sind?
nicht schon seit dem Tag
Sind sie reif, weil der Wurm kam? Jedenfalls aber
Die Dichterin Hans v. Kahlenberg ist eine
manchem Menschen stecken
fallen sie ab, weil sie reif sind. Im Grunde haben sie
Historikerin unserer Dekadenz. Ihr reicher, produktiver
lagen. Aber die einen, we
nur einen früheren Herbst als die anderen ...
Kunstverstand ist des differenzierenden Beobachtens und die stärkeren und überwu
Jede Kultur hat's mit der Natur gemein: daß der
des Ersinnens fähig. Will man ihre Art abgrenzen, so die anderen. Nichts als
Zweck der Herbst ist für das Entstehen im Frühling, für
denke man etwa an Arthur Schnitzler, den gleich ihr das Sprichwort: „Junge
das wachsende Prangen des Sommers. Erschöpft und
fast ausschließlich die Erscheinungen der herbstlichen= Man mag nun den Ring
reif zu werden, ist der Zweck. Die brausende Wonne des
Ueberkultur beschäftigen. Zwischen den beiden besteht
eines Menschen, der sich
Frühlings überwältigt auch die gröbsten Nerven. Nur
mehr als ein individueller, besteht ein vollkommener
Byronschen Don Juan zu
der Differenzierende genießt die unendlich vielen feinen
tGattungsunterschied. In Schnitzlers Adern rinnt das
Spießer verwandelt, imme
Farbentöne des Herbstes.
Blut seiner Schöpfungen. Er selbst, so sicher er objek¬
falls ist das ein indiv
Die Kunst, zu differenzieren, ist Künstlerkunst. Wer
kiviert, ist vom Geschlecht der späten Enkel. Er lebt sich
gang hai Gattung. Und
sie hat, hat ein Stück Künstlertum, ob er nun schafft
aus in seinen Dichtungen. Man kann nicht sagen, daß
Buches scheint zu spotten:
oder bloß genießt. Es ist kein Zufall, daß herbstliche
die Geschöpfe in den besten Büchern der Kahlenberg
Das Aparte an dem
Kulturen, die schon Merkmale des Zerfalles trugen, keine richtigen Organismen, daß sie konstruiert wären.
der Kahlenberg ist
seine
immer besonders fruchtbar waren für Kunst und
Sie sind dem Leben abgelauscht; nur nicht erlebt. Es
Ueberkultur; seine skeptische
Künstler. Seit dem perikleischen Athen. Aber mit dem tut sich mancher was darauf zugute, daß er sich über
in sadistischen und masoch
einfachen Gesetz von Ursache und Wirkung ist's nicht der Situation zu halten pflege; sollte dieser Vorzug in
mondäne Durchsichtigkeit un
erklärt. Es kommen da auch Rückwirkungen in Betracht.
der schöpferischen Kunst nicht eher ein Versagen sein?
üppigsten Tafeln der Kun
Künstler sind Menschen, die differenzierend schaffen,
Mit künstlerischem Spürsinn sammelt Hans v. Kahlen¬
ja übersättigte Bildung. Un
und Menschen, die disserenzierend genießen. Dann gibt berg auch in ihrem jüngst erschienenen Buche feine und
es noch eine dritte Gattung: die steht zwischen den echte Distinktionen. Was mir daran wieder fehlt, ist ein *) Bua, Deutsches Verlag