VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 193

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2. Luttings

tur ihrer Ding, das man individuelle Lebensanschauung nennet
Der rich= mag. Die rechte Lebensanschauung läßt sich meckwü¬
Künstler= digerweife aus dem bloßen Anschauen fremden Lebers
nicht gewinnen. Sie ist ein Produkt aus der Kreuzung
erenzieren
von Außen= und Innenwelt. Die eigene Persönlichkät
hes Buch
Sie muß
ist der Schoß, in dem sie gezeugt wird.
tisch), der
keineswegs als Lehrbuch der Ethik oder als Tendenz¬
ßerer Ge¬
dichtung geboren werden. Sie lebt in jedem Kinde, das
Geschichte
sich in schmerzvoller Geburt aus dem Innern einer
ler, und
dichterischen Persönlichkeit losgerissen hat.
Ich habe nicht vergessen, daß wir Hans v. Kahlen¬
r Wissen¬
berg den Erziehungsroman „Der liebe Gott“ verdanken,
erstanden,
den ich als aufklärende Tendenzarbeit und als ebenso
zart zu
treue als tapfere Abspiegelung persönlicher Erfahrungen
geheimen
sehr hoch schätze. Unter jener Weltanschauung, die sich
sich die
absichtslos und unbewußt den Geschöpfen mitteilt, wollte
Hilfs¬
ich eben nicht Tendenz verstanden wissen. Ich meine# ##
der Klio
Müssen; den schöpferischen Ernst statt des Spielerischen;
wieder
das Wachsen statt des Ersinnens. Was starke Persönlich¬
weil sie
Im Ver¬
keit hat, hat Weltanschauung.
Kategorie,
Das jüngste Buch: „Derenigmatische Mann“
elbar Ge¬
(warum nicht schlicht und deutlich „Der rätselhafte
Herzschlag.
Mann"?)*) ist ein Beitrag zur Ueberkulturhistorie unserer
im zu be¬
Zeit. Aber doch nur in dem bedingten und bescheidenen
das ihnen
Maße, in dem der Mann des kleinen satirischen Romans
1
sichten.
sich, nicht bloß durch den Stil der Darstellung, von einem
tur. Der
in den verschiedensten Zeitaltern verbreiteten Typus unter¬
von ihm
scheidet. Wie in der Verliebtheit fast jeder junge Mensch
1. Und
Gedichte macht, so gebärdet sich mancher Most genialisch¬
Hier
rn?
absurd, und wird doch kein dionysischer Wein, wird ein
lebendig
trübes Naß fürs Philisterstückfaß. Diese scheinbare Wand¬
lung ist eigentlich nur eine Entwicklung: denn es kommt
nswahrheit
keinem in einem höheren Lebensalter zugeflogen, was
nicht schon seit dem Tag seiner Geburt in ihm war. In
ist eine
manchem Menschen stecken eben die gegensätzlichen An¬
produktiver
lagen. Aber die einen, wenn auch zeitweilig verdeckt, sinld
die stärkeren und überwuchern und erdrücken allmählich
htens und
grenzen, so die anderen. Nichts als diese Wahrheit notifiziert auch
gleich ihr das Sprichwort: „Junge Dirnen, alte Betschwestern.“
herbstlichen
Man mag nun den Ringkampf der Elemente im Innein
eines Menschen, der sich aus einem modern=kultivierten
den besteht
lkommener Byronschen Don Juan zu einem unrettbar versumpften
Spießer verwandelt, immerhin rätselhaft nennen: keine
rinnt das
falls ist das ein individuelles Rätsel. Der Vor¬
er objek¬
gang hal Gattung. Und der Titel des Kahlenbergschen
Er lebt sich
sagen, daß
Buches scheint zu spotten: Lucus a non lucendo.
Das Aparte an dem wenig enigmatischen Mann
Kahlenberg
der Kahlenberg ist seine ganz ausnehmend raffinierte
iert wären.
erlebt. Es
Ueberkultur; seine skeptische und künstlerische Erotik, die
sich über
in sadistischen und masochistischen Farben schillert; seine
Vorzug in
mondäne Durchsichtigkeit und Ruhelosigkeit; seine an den
sagen sein?
üppigsten Tafeln der Kunst und Wissenschaft gesättigte,
v. Kahlen¬
ja übersättigte Bildung. Und all das verfilzt in schwam¬
feine und —
hlt, ist ein *) Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin=Charlottenburg,
migem Fett ....! Aus dem quälerischen Liebesverhältnis
Bonaparte waren Advok
mit der hochsensitiven, sinnlichen, schlanken, weißen, won¬
zur Dekadenz im Allgen
nigen Dame (natürlich der Frau eines anderen), aus den
weil es zur geistigen
italienischen Liebesnächten voll betäubender Herrlichkeit
geschwollen ist.
geht Herr Abelard über zum Frieden seiner Ehe mit
Schleuderhaft ist das
einer dummen, dicken Trine, einer Köchin, einer Strümpfe¬
ersten Male versagt sich
stopferin... Das ereignet sich nicht allzu selten... Herr
Mühe zugleich den letzte
Abélard wird feist und kahl, kriegt Kinder, liegt auf der
rundung fehlt. Allzu einse
Bärenhaut und säuft... Säuft nicht etwa aus Ver¬
der „enigmatische“, Zweck
Er
zweiflung, nein, mit stumpfsinnigstem Behagen!...
hat übrigens in der jü
ist nun ein tüchtiger Bürger und hofft Bürgermeister zu
den mir sehr unsympathi
werden im Landstädtchen.
hesser“ von Richard Scha
Hans v. Kahlenberg hat sichs mit dem Uebergang,
verflüchtigt sich zu einem
auf den es für die psychologische Kunst hauptsächlich
die wenigen Streiflichter,
ankam, bequem gemacht. Statt der Motivierung wählte
und erotische Weib treffen
sie einen Bluff, einen richtigen Theatercoup. Noch eben
Verkürzte! Als novellisti
hatte Herr Abélard aus Sevilla an seine Geliebte ge¬gmatische Mann“ ein Per
schrieben. Seine Worte hauchten Sehnsucht, blasierte Demivierge=Monographie,
Sinnlichkeit und die Nervosität des Verwöhnten. Und einst berühmt gemacht hat
er sagte, daß er nun in den wilden Abenteuern des
Goethe spricht von
Orients zugrunde gehen wolle. Aber der nächste Brief
Umgekehrt verdient auch
meldet schon, daß er sich mit der dicken Base verheiratet
Hans v. Kahlenbergs
habe. „Vielleicht werde ich hier im Nest noch Bürger¬
Ueberaus verschwenderisch
meister.“
und differenzierte Beobach
Es folgen dann keine Briefe, überhaupt keine
Briefe bietet besonders vie
Aktionen mehr des „Enigmatischen“. Nur mehr un¬
Neuentdeckten auf dem un
wahrscheinliche Briefe von anderen Personen an die
Erotik. Dort hat man au
Dame, gewissermaßen Gutachten von Spezialisten, die
d. h. geschichtliche Bedeu
den späteren Zustand des Herrn Abélard beschreiben;
suchen. Man wird an
den aufgedunsenen, grenzenlos banalen, ekeshaften Zu¬
gehen
stand. Auch dieses Mittel der Verfasserin: sich mit Hilfe
eines Raisonneurs das Modellieren zu ersparen, ist
allzu bequem. Die drei Epilogschreiber: ein Arzt und
Bräutigam, ein Schlächtermeister und ein Aristokrat,
sind in der Tat nur der durch die Zahl 3 dividierte
Raisonneur.
Immerhin ist diese Gesuchtheit eine kleine
Originalität. Statt der „Moral von der Geschichte“, die
man in der guten altin Zeit zu geben liebte, wollte
Hans v. Kahlenberg das „Wie ich es sehe“ mehrfach
individualisieren. Aber einerseits sind drei standesmäßige
Urteile zu wenig für das menschliche Kaleidoskop, anderer¬
seits sind sie schon zu viel für diesen Gegenstand der
Betrachtung: den höchst gewöhnlichen Mann. Es scheint
mir, als ob in das Schlußwort des Aristokraten etwas
von der persönlichen Meinung der Verfasserin einge¬
lossen sei. Da, wo die niedere Abkunft für die Charakter¬
osigkeit des Mannes, der trotz erworbener Bildung in
söherer Lebenssphäre nicht bodenständig geworden sei, ver¬
intwortlich gemacht wird. Das ist natürlich ein sophisti¬
ches Vorurteil — tausendmal widerlegt durch augen¬
ällige Vermischung gerade des Luxus und der Aristo¬
ratie mit geistloser Gemeinheit und Trivialität. Sollte
ie Verfasserin, die auch wieder einmal ihre Abkunft
om allzu lustigen Jérôme Bonaparte nicht ruhen
assen kann, an solcher Nabelschnur hängen?! Aber die!