VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1933, undatiert, Seite 203

2. Cuttings
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Zu den charakteristischen Merkmalen der
dramatischen Produktion, die das abgelaufene
Spieljahr gezeitigt hat, gehört die beinahe
völlige Unfruchtbarkeit auf dem Gebiet des
feineren, der eigentlichen Literatur zugehörigen
Lustspiels. Dieses Versiegen der Lustspielproduk¬
tion wird für die Theater nachgerade eine
Kalamität. Der Glückliche, dem heute ein geist¬
reiches und wirksames Lustspiel gelänge, würde
ein Vermögen damit erwerben. Da selbst die
Aussicht auf klingenden Ertrag, für welche
moderne Autoren so sehr empfänglich zu sein
pflegen, das deutsche Lustspiel nicht aus seinem
Todesschlaf zu wece vermag, muß die Ur¬
sache, welche die Luftspielproduktion hemmt,
fast unüberwindlich sein. Möge sich die frohe
Kunde bestätigen, daß Artur Schnitzler ein Lust¬
spiel schreibt. Kein anderer deutscher Dichter
ist so berufen wie er, den goldenen Faden, der
den Händen des greisen Bauernfeld entglitt,
wieder aufzunehmen und im modernen Sinne
fortzuspinnen. Von allen deutschen Lustspiel¬
dichtern war Bauernfeld, dessen Schwächen nicht
verhehlt werden können, doch der einzige, dessen
Komödien eine wirkliche Gesellschaft heiter
widerspiegelten und nicht in der fiktiven Kom¬
merzienratwelt spielten. Vielleicht findet er in
Schnitzler seinen Nachfoiger. Der Einakter
„Literatur“ läßt es hoffen. Der Wiener Boden
ist ja überfruchtbar an Lustspielfiguren und
stoffen. Der deutsche Norden hat das schwer¬
blütige modern=realistische Drama geschaffen.
Vielleicht gelingt es einem österreicher, dem
Theater jene heiterkeit, ohne die es nicht leben
kann, zurückzuerobern.
Das abgelaufene Spieljahr scheint die
Diagnose, daß der orthodoxe Naturalismus
strikter Observanz ausgelebt hat, zu bestätigen.
Gerhart hauptmanns „Rose Bernd“ hat es zu
einem durchschlagenden und nachhaltigen Erfolg,
wie „ Fuhrmann Henschel“ ihn errang, nicht bringen
können. Im allgemeinen hat der Naturalismus in¬
sofern günstig gewirkt, als das durch ihn erzogene
Publikum von den Gestalten der Bühne tiefere
Naturwahrheit verlangt, als in früheren Zeiten.
hohle Puppen ohne Seele und Leben, wie sie
noch das Publikum der Siebzigerjahre sich ge¬
fallen ließ, würde heute kein Mensch mehr ernst¬
nehmen. Aber durch die berechtigten Anforde¬
rungen, welche das Publikum an ein Bühnen¬
werk stellt, von dem es sich gefangennehmen
lassen soll, hat das Publikum auch den Natura¬
lismus erzogen. Mehr und mehr kehren seine
begabtesten Vertreter, die früher ihren Stolz
darein setzten, den Zuschauern einen möglichst
formlosen, aber blutig wahren Jetzen Wirklich¬
keit hinzuwerfen, zur regelrechten, traditionellen
Theaterform zurück. Max halbes Schauspiel
„Der Strom“, das, wenigstens im Deutschen
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Reich, einen der größten Erfolge des vorigen
Spieljahres bedeutet, ist ein Theaterstück im
alten, guten Sinne des Wortes mit spannender
Handlung und wuchtigen Aktschlüssen. Ja, es
macht dem Effekt so große Zugeständnisse, daß
ein boshafter Kritiker sagen durfte: „Wenn der
„Strom“ von Philippi wäre, wäre er ein
schlechtes Stück.“
Überhaupt hat sich in den letzten Jahren
ein Dramentypus heraus entwickelt, der als
Kreuzungsprodukt zwischen dem realistischen
Milieudrama und dem im Philistersinn bühnen¬
wirksamen Theaterstück alten Schlages bezeichnet
werden kann. Dielleicht war die Lantieme die
Vermittlerin. hartlebens „Rosenmontag“ war,
wenn ich nicht irre, das erste Exemplar dieser
Gattung, die vom Realismus das Element des
„Milieus“ und vom alten Theaterstück die
spannende, Rührseligkeit und heiterkeit ver¬
schmelzende Handlung entlehnt. Das Kassische
Werk dieser Richtung ist „Alt=Heidelberg“ In
der verflossenen Saison war sie durch das Militär¬
stück „Der Hapfenstreich“ glänzend vertreten.
Unverkennbar hat sich im vorigen Spieljahr
das Interesse an älteren deutschen Dichtern neu
belebt. Insbesondere erfuhr hebbels Tragödie
„Herodes und Mariamne“, die bekanntlich bei der
ersten Aufführung im Burgtheater vor mehr als
fünfzig Jahren schmählich durchfiel, eine glän¬
zende Auferstehung. Einige Bühnen, welche die
Aufführung dieser herben und spröden Dichtung
als literarisches Experiment zweifelnd wagten,
wurden durch einen unverhofften Kassenerfolg:
für ihren Mut belohnt. Das neu erwachende
Verständnis Hebbels dürfte teilweise dem Stu¬
dium und Kultus seines Geistesverwandten Ibsen
zuzuschreiben sein. Der fremde Genius lehrte
das Publikum den deutschen Dichter fassen und
würdigen.
Ein großes, epochemachendes Ereignis hat
sich im abgelaufenen Jahre auf der deutschen
Bühne nicht zugetragen. Weder ist ein neuer
Dichter erschienen, der in einer gewaltigen
Schöpfung den Zeitgenossen ungekannte Welten
der Doesie aufschloß, noch ist dem Geist eines
der längst bekannten und berühmten Dichter
ein Werk entsprungen, das der literarischen
Physiognomie seines Urhebers einen neuen
wesentlichen Zug hinzuzufügen vermocht hätte.
Im ganzen war es ein unergiebiges Jahr, eine
Periode des Überdrusses am Bisherigen und des
tastenden Suchens nach noch unverbrauchten
dramatischen Reizmitteln, eine öde Zwischenzeit,
in der man Stücke zu schreiben sucht, die mög¬
lichst viel Geld einbringen. Der Gott, der auf
dem Giebel des modernen Theaters thronen
sollte, ist gegenwärtig nicht Dionysos, noch
weniger Apollo, sondern Merkur.
Alfred Freiherr von Berger.