VII, Verschiedenes 2, 50ster Geburtstag, Seite 120


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wicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts“ innerhalb der
herrlichen „neu begründeten gesetzgeberischen Ordnung der Dinge.
Aber auch offene Gewalttaten geschehen. Das
„Berl. Tagebl.“ erzählt:
In dem Flecken Sdunskaha=Wolja, in der Nähe von Lodz, starb
jüngst eine christliche Magd im Hause eines Jnden ganz plötzlich,
worauf die Leute des Echtrussischen Verbandes eine Hetze begannen,
und ein Pogrom seinen Anfang nahm. Die Inden des Fleckens
wurden gehauen, in ihren Häusern die Scheiben eingeschlagen, ihre
Läden geplündert und ihr bewegliches Gut ruiniert. Truppen sind
zur Herstellung der Ruhe aus Lodz beordert worden. Bisher fehlen
Nachrichten über Tote, dagegen steht fest, daß viele schwer mißhandelt
worden sind.
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In einem Falle wenigstens, in dem Ritualmordprozeß,
siegt das Recht. Die Zeitungen verkünden:
Im Ritualmordprozeß hat einer telegraphischen Meldung aus
Kiew zufolge der Appellhof gemäß dem Antrag des Bezirksgerichts
seinen Beschluß, gegen Beilis die Anklage zu erheben, annulliert und
eine Neuuntersuchung des Mordes an dem Knaben Juschtschinski an¬
geordnet.
Könnte man doch diesen Beschluß als Anfang einer neuen
Aera bezeichnen! Aber man glaubt es kaum mehr, daß es
im Osten tagt. Doch wir wollen nicht verzweifeln. Auch in
Deutschland ward es erst Licht nach vielen trüben Zeiten, wir
wollen glauben und hoffen, daß das Dunkel auch aus den
finstersten Ländern weicht.
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Arthur Schnitzler und Ludwig Fulda.
Von Rahel Edelstein.
Jer voll den deutschen Zeilgenossen kennt nicht diest
L0 beiden Namen, deren Träger so recht das verschieden¬
artige Temperament ihrer Heimat in ihren Werken zum dich¬
terischen Ausdruck bringen? Wer verdankt nicht diesem Süd¬
deutschen und jenem Norddeutschen Stunden rein künstle¬
rischen Genießens? Wer kann sich dem Zauber entziehen, mit
welchem die anmutbelebten Gestalten des einen über die tie¬
feren Abgründe des Daseins sanft=selig uns hinübergeleiten;
wer aber möchte nicht, gestützt auf die sichere Hand des an¬
deren, selbst mitbeseelt, einen Blick in diese Abgrundtiefen wa¬
gen? Beide Männer, auf der Sonnenhöhe des Lebens ange¬
langt — Arthur Schnitzler vollendete am 15. Mai sein 50. Le¬
bensjahr, Ludwig Fulda wird dasselbe am 15. Juli erreichen
sind deutsche Dichter, deren Platz in der Literaturgeschichte
des deutschen Volkes ein schon heute festgestellter ist. Beide
werden durch ihre Schöpfungen typisch sein für ihre Zeit und
ihre Heimat; für jene haben sie neue Ausdrucksformen ge¬
schaffen, und dieser reiche, farbenfrohe Ausdrucksmittel ver¬
liehen. Und beide sind — was durchaus nicht ein bloß sin¬
niger Zufall ist— Juden, treumeinende, ehrliche Juden, die
sich selbst als gar nichts anderes denken können und wollen,
und Juden bleiben, wie sie als Inden geboren sind.
Sie wissen eben beide, daß es der Inden Schicksal und Be¬
stimmung ist, den ganzen geistigen Inhalt jeglicher Epoche
auszuschöpfen und in einen ihrer Individnen auf dieselbe zu¬
rückstrahlen zu lassen. Wir sagten: Schicksal und Bestimmung;
wir meinen aber jenes der jüdischen Psyche eigene Feingefühl,
welches dieselbe jedem geistigen Eindruck empfänglich gemacht
und sie mit jenen Reagenzien versehen hat, welche diese Ma¬
terie zu verdichten und sie in innigere Kohäsion zu bringen
geeignet sind. Sie wissen auch beide, daß sie nicht die ersten
in der langen Geschichte des Indenvolkes sind, welche zu Trä¬
gern dieser Bestimmung ausersehen wurden.
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Selbst Jesus, der Nazarener, ist nur ein einzelner in dieser
Reihe von Schicksalshelden, welche vielleicht mit dem bib¬
lischen Joseph, dem Schöpfer der ersten Reichsverfassung, ihren
Anfang nimmt.
In der uns geläufigeren nächchristlichen Geschichte wird sich
in jedem Zeitraume ein Mann jüdischer Abkunft nachweisen
lassen, der alles geistige Streben seiner Zeit erfaßt und zusam¬
mengefaßt hatte und dasselbe in veredelter Form seinen Zeit¬
genossen wieder zuströmen ließ.
Wenn wir für die griechische Philosophie Philo von Alexan¬
drien erwähnen, für die römische Geschichtsschreibung Flavins
Josephus, sodann für die Zeit Karls des Großen jenen jüdi¬
schen Vornehmen, den der Kaiser als Unterhändler an den
maurischen Hof entsandte, so haben wir nur einen kleinen Teil
jener Jnden genannt, in welchen sich die geistige Physiognomie
ihres Landes und ihrer Zeit erhalten hat. Für das spätere
Mittelalter wollen wir nur die Juden Samson Piné und
Isaak Wallich anführen, welche nach Prof. Geiger „Die
deutsche Literatur und die Jnden“ sich durch die Uebersetzung
des Parzival=Stoffes aus dem Spanischen resp. durch die
Sammlung deutscher Volkslieder für immer um deutsches
Geistesleben verdient gemacht haben. Auch die von den juden¬
feindlichsten Fürsten und Päpsten als Aerzte und Finanz¬
männer an die Höfe gezogenen Inden waren es, welche das
gesamte Wissen ihrer Zeit in sich vereinigt haben. Rücken wir
nun gar in die Neuzeit ein, so begegnen wir in dem Rabbiners¬
Entel Josef v. Sonnenfels unstreitig dem martantesten Ver¬
treter der Aufklärungsepoche, neben welchem auch Marx,
Mendelssohn in literarischer Richtung sich behauptet.
Das 19. Jahrhundert aber ist reich an jüdischen Abkömm¬
lingen, welche das in ihrer Zeit vorherrschende geistige Leit¬
motiv am konzentriertesten erfaßt und in Worte oder Töne¬
gekleidet haben. Das Sehnen nach der Einigung des Deutschen
Reiches wurde am lantesten zuerst von Heinrich Heine ver¬
kündet, Verthold Auerbach aber stärkte das Selbstbewußtsein
des deutschen Volkes durch die ethische Verklärung, welche er
demselben in seinem schlichtesten Gestalten zuteil werden ließ.
Halévy und Offenbach waren es, welche in der französi¬
schen Operette jene Kunstform geschaffen haben, welche dem
nach seichteren Auregungen lechzenden, als erstes gegen die
Nervosität ankämpfenden Zeitalter entsprach — ein Zeitalter,
welches zu wohlerzogen war, um sich an Sentimentalität oder
Bulgarismus allein genügen zu lassen. Ein Vierteljahrhun¬
dert früher hatte Meyerbeer die deutsche und die historische
Oper geschaffen. Was Marx und Lassalle als Begründer der
sozialistischen Weltanschauung für den Hortschritt des Men¬
schengeschlechtes getan haben, wird erst in kommenden Jahr¬
hunderten zu vollkommener Würdigung gelangen. Ludwig
August Frankl ist aus einem freiheitlich gesinnten Dichter¬
treise derjenige, dessen Stimme am vernehmlichsten erscholl,
und J. J. David hat als erster die jetzt so geschätzte Heimats¬
poesie gepflegt. Daß Adolf Fischhof jenes Wort gesprochen,
das den Bann von Tausenden von Herzen löste, geschah gleich¬
falls im Zuge jener von den Juden unbewußt geübten Fähig¬
keit, das Sprachrohr für die Tagesgeschichte zu sein. Und so
liegt es nicht etwa an den Juden selbst, sondern wurde ihnen
im Sinne jener höheren Psychologie zuerteilt, welche Bega¬
bungen in scheinbarer Regellosigkeit da oder dort aufsprießen
läßt, daß sie jeder Lebensäußerung ihrer Zeit zum Durch¬
bruche verhelfen, ja geradezu die Verantwortung für dieselbe
auf ihre Schultern laden müssen. So kam es, daß der Dichter
und Komponist der rührseligsten Wiener Lieder, Alexander
Krakauer, ein Schneiderssohn und Enkel eines Schochet, der
im Alter von 25 Jahren an Lungentuberkulose starb, ein Inde
sein mußte, ebenso, wie Bernhard Piek, der Verfasser des als
urwienerisch geltenden „Fiakerliedes“. Und so kommt es auch,