VII, Verschiedenes 2, 50ster und 55ster Geburtstag, Seite 6

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5oth and 55th Birthday
Geburt gehören wir ihr an, deshalb wird sie aus unserer Empfindung niemals
auszutilgen sein, die Frage ist nur, ob wir auch geistig uns ihr fügen müssen
oder sie geistig vielleicht überwinden dürfen, ob nicht unserer Generation
gerade dazu nur die Kunst gegeben wurde, die Kunst und die namenlose
Sehnsucht, um durch sie das Leben selbst, dessen leere Lügen wir nicht
mehr ertragen, aus uns umzuformen. Das Leben hält uns geistig nicht, was
wir von ihm fordern. An unseren Gedanken gemessen, ist es matt und
dumpf. Und darum willst Du Dich aus ihm stehlen, in den Winkel müßiger
Entsagung? Weil es unserem Geiste nicht gemäß ist, das soll mich be¬
stimmen, es mit dem Geiste der Väter zu versuchen? Wenn das Leben mir
nicht gemäß ist, wer sagt Dir denn, daß ich darum mich ändern muß,
statt es? Trauen wir uns so wenig zu? Haben wir uns denn schon mit ihm
gemessen? Wir wollen doch erst einmal sehen, wer stärker ist: wir mit
unserer freudigen Sehnsucht nach der neuen Form einer starken, durchaus
wahrhaften, leuchtenden Existenz in innerer Freiheit, oder dieses hinfälligen
alten Lebens trister Widerstand! In Gedanken still beiseite, sozusagen: auf
dem anderen Ufer sein und höchstens manchmal lächelnd herüberschauen,
froh, daß man sich noch zur rechten Zeit geflüchtet und davor gesichert
hat, das scheint jetzt oft der müde Wunsch Deiner Menschen. Aber solche
Gedanken, die nur still, mit gesunkenen Händen, beiseite sitzen können,
sind mir nichts und mich verlangt nach kühneren, die die Kraft hätten,
die Fäuste zu ballen und ins Leben zu strecken und es nicht zulassen, bis
es uns segnen wird. Ich denke jetzt so oft an Deinen „Schleier der Bea¬
trice“, an die schaurig große Stimmung jener letzten Nacht, die den
blutigen Borgia schon vor den Toren weiß... und morgen wird er kommen
und mit ihm kommt der Tod. Sind wir nicht selbst jetzt in solcher Nacht
einer Welt, die morgen versinkt? Aber da wollen wir doch die paar letzten
Stunden, bevor der Borgia kommt, endlich einmal nicht mehr entsagen,
nicht mehr uns fügen, nicht mehr nach dem Gebot der Väter fragen, sondern
nachholen, bevor es zu spät ist und endlich nichts als wir selbst sein und,
den Tod im Leibe, endlich, endlich leben! Ich glaube nicht mehr, Arthur.
daß Entsagung Reife ist. Ich glaube, sie ist nur innere Schwäche. (Furcht
von Menschen, die sich bewahren wollen, weil sie noch nicht wissen, daß
dies der Sinn des Lebens ist: sich zu zerstören, damit Höheres lebendig
werde.) Ich glaube, daß dies weite Leben, das da draußen winkt, ungeheuer
reich an wilder Schönheit und verruchtem Glück ist: es wartet nur auf einen
großen Räuber, der es zwingen wird. Ich glaube nicht mehr an die kleinen
Tugenden des gelassen zuschauenden Geistes. Ich glaube nur noch an die
große Kraft ungestüm verlangender Leidenschaft. Und ich glaube, daß einer
von uns, gerade einer von uns, dies machen muß, dies Werk, das die
letzte Nacht einer alten Zeit enthalten wird, aus der schon in der Ferne,
blutig froh, die Sonne der neuen bricht. Mach' Du's!“
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